Kurze Buchbesprechung: „Der Reaktor‟ von Elisabeth Filhol

In der krisenhaften Gegenwartsgesellschaft ist, so schreibt Robert Castel, mit den Arbeitsverhältnissen auch eine bestimmte Sicht auf die Zukunft prekär geworden. Der Glaube daran, dass das Morgen besser sein könnte als das Heute. Die “soziale Verwundbarkeit” des Prekariats nimmt zu, die Situation von Leiharbeiter_innen ist hierfür ein Beispiel.

Deren Situation wird in Elisabeth Filhols Roman “Der Reaktor” in zugespitzter Form beschrieben. Sie arbeiten für die Atomkonzerne, mit weniger Rechten als die Stammbelegschaft, für einen geringeren Lohn. Sie werden, nicht nur in dieser Sicht, als Wegwerfware behandelt.

„EDF streicht die Gewinne ein, du streichst die Dosis ein.‟

Yann ist einer von ihnen. Er fährt das Jahr über als Nomarde – in einem Wohnwagen, den er sich mit einem Kollegen teilt – durch Frankreich. Von AKW zu AKW, von der einen Revision zur nächsten. Das bestimmende Thema ihrer Gespräche ist “die Dosis”:

„Das geringe Kapital an Millisievert sieht man dahinschmelzen wie Schnee in der Sonne, das wird zu einer Obsession, man denkt nur noch daran, beim Aufwachen, am Spind, bei der Arbeit lässt man das Dosimeter nicht aus den Augen, das geht soweit, dass man es der Verordnung übel nimmt, in der die zulässige Quote um die Hälfte herabgesetzt wurde, und dabei vergisst man, was es langfristig bedeutet. Neutronenfutter. Remfleisch. Man setzt in diesen drei Wochen, die der Block abgeschaltet ist, doppelt so viele Leute ein. Das Rem ist die alte Einheit, aus dem alten System. Heute Sievert. Das ist das Kapital, über das jeder verfügt, zwanzig Millisievert, die maximal erlaubte Strahlendosis über einen Zeitraum von zwölf Monaten. Und wenn noch so viele an vorderster Front umfallen, die Reserve ist scheinbar unerschöpflich.‟

Yanns Geschichte und sein Umgang mit der alltäglichen Bedrohung des Normalbetriebs wird von Elisabeth Filhol in sachlichem Tom erzählt. Die unaufgeregte Sprache der Dokumentation steht dabei im deutlichen Kontrast zu dem, was den Arbeiter_innen im Reaktor zugemutet wird. Auch wenn es nicht unbedingt eine neue Erkenntnis ist, dass Atomkraft in vielerlei Hinsicht menschenverachtend ist und Atomkonzerne über Leichen gehen, ist das eine absolut empfehlenswerte Lektüre.

Der Roman erschien in Frankreich bereits 2010, also vor der Katastrophe von Fukushima. Bei Nautilus erschient er nun zur richtigen Zeit. Er macht deutlich, dass der atomare Wahnsinn gestoppt werden muss, nicht erst 2022, wie rot-grün und schwarz-gelb es vorsehen. Und er lenkt die Aufmerksamkeit, zusammen mit anderen aktuellen Recherchen zum Thema Leiharbeit in AKW (s.u.), auf einen auch in der Anti-Atom-Bewegung lange, wenn nicht seit dem Nukem-Skandal in Hanau in den 1980er Jahren, unterbelichteten Aspekt.

Filhol, Elisabeth. 2011. Der Reaktor. Hamburg: Edition Nautilus. 128 Seiten,16 Euro  [Leseprobe – PDF]

Besprochen von Bert Begal-Börten, Anti-Atom-Plenum Berlin

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