Eine Auswertung der Kampagne “Castor? Schottern!” von der Gruppe FelS ( Für eine linke Strömung Berlin), Dez. 2010
Labor des Widerstands
Castor-Transport 2010 in Zahlen: 5. bis 9. November, 92 Stunden von La Hague bis Gorleben. Ca. 25 Mio. Euro Kosten und knapp 20.000 Polizist_innen – zumeist am Rande ihrer Belastungsgrenze. 50.000 Menschen auf der Auftaktkundgebung in Dannenberg, weit über 10.000 bei den unterschiedlichen Blockade-Aktionen und gut 4.000 Aktivist_innen beim Schottern. Niemals zuvor wurde ein Castor-Transport so lange aufgehalten wie in diesem Jahr. Das lag zum einen an der Breite und Vielfalt des Protestspektrums, aber auch an dem Zusammenspiel der verschiedenen Aktionsformen. Mit dem öffentlich angekündigten Schottern wurde von vielen antikapitalistischen Linken eine massenhafte Regelüberschreitung durch eine unversöhnliche Aktionsform ausprobiert – mit Erfolg.
Grundsteine in schwarz-gelb
Die Rahmenbedingungen für die längste Verzögerung und die höchste Zahl an Demonstrant_innen im Wendland seit Beginn der Transporte 1995 wurde auch durch die Entscheidung der Regierungskoalition geschaffen: die AKW-Laufzeitverlängerung, in Geheimverhandlungen mit den großen vier Energiekonzernen verabredet, nur zwei Wochen vor dem Transport. Seit dem Sommer tobte schon die Debatte um die Nutzung der Atomenergie. Während hunderttausende Menschen gegen den „Ausstieg aus dem Ausstieg“ demonstrierten, verteidigte Schwarz-Gelb ihr Herrschaftsprojekt (genannt „Brückentechnologie“) und schürte die Angst vor Stromengpässen und steigenden Preisen. Erfolglos, denn vielen war klar: Wieder einmal offenbart sich eine Politik, die unverhohlen Interessen des Kapitals bedient, die Monopolstellung von EON, ENBW, RWE und Vattenfall zementiert und der Ausbau regenerativer Energien verhindert. Anstatt im Dialog mit der Zivilgesellschaft derartige Entscheidungen prozesshaft auszuhandeln, haben Merkel, Röttgen, Brüderle und Co. sich darauf beschränkt mit harter Hand zu regieren und ihr konservatives Profil zu stärken. Sicherlich ist das in Zeiten einer parteienübergreifenden Sehnsucht nach “Mitte-Sein” ein Alleinstellungsmerkmal – aber es war auch der Grundstein für eine breite Protestbewegung in und um Gorleben.
Castor, Castor, Castor – Schottern, Schottern, Schottern!
Seit einigen Monaten manifestiert sich ein in Deutschland seltener rebellischer Geist, der sich nicht nur im Anti-AKW-Bereich, sondern auch beim Protest gegen das milliardenteure Prestigeprojekt Stuttgart 21 ausdrückt. Die Notwendigkeit von Ungehorsam gegen fundamentale Fehlentscheidungen der Regierung war seit langem nicht so breit akzeptiert wie aktuell. Angesichts dieser Verhältnisse kam die Kampagne „Castor? Schottern!“ zur richtigen Zeit. Es war klar, dass die Antwort auf die schamlose Garantie von Milliardengewinnen für die Energiemonopolisten nicht nur die altbewährten Sitzblockaden sein konnten. Mit Schottern – also dem massenhaften und organisierten Wegräumen der Steine aus dem Gleisbett der Castorschiene – wurden Praktiken des zivilen Ungehorsams aufgegriffen und erweitert. Über 1700 Gruppen und Einzelpersonen kündigten im Vorfeld öffentlich mit ihrem Namen an, im großen Stil Sabotage an den Gleisanlagen im Wendland zu betreiben. Das war ein Novum, das schnell viel Sympathie erfuhr. Ungeachtet der Kriminalisierungsversuche durch die Staatsanwaltschaft Lüneburg stieg die Zahl der Unterzeichner_innen der Absichtserklärung stetig an. Und nicht nur in der Berichterstattung über die Castor-Proteste war das Schottern in aller Munde.
Im Rahmen der Kampagne „Castor? Schottern!“ haben sich sehr unterschiedliche Teile der Linken zusammengefunden: Anti-AKW-Initiativen, autonome Gruppen, Klimabewegte und Gruppen der Interventionistischen Linken. Ausgehend von den Erfahrungen der letzten Jahre im Wendland, den Protesten gegen den G8-Gipfel 2007 und verschiedenen Blockaden gegen Nazis und Rechtspopulist_innen fanden wir mit Schottern eine gemeinsame Aktionsform, die im Hinblick auf Radikalität und Verbindlichkeit die unterschiedlichen Bedürfnisse befriedigt. Die Aktion war der Ausdruck einer unversöhnlichen und antikapitalistischen Linken, die durch das Loch unter der Schiene den Verhältnissen ein deutliches Nein entgegen setzen wollte. In den Wochen und Monaten vor der Aktion haben wir es geschafft, ein gutes und solidarisches Verhältnis zu den anderen Kampagnen im Wendland X-tausendmal-quer, WiderSetzen, der BI Lüchow-Dannenberg und der Bäuerlichen Notgemeinschaft aufzubauen. Daneben war die Rückendeckung, die wir von Personen aus NGOs, Gewerkschaften, der Linkspartei bekamen, elementar.
Die radikale Linke hat bewiesen, dass sie die Akteurin in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen sein kann, die den Unterschied macht und die gesellschaftliche Meinung nach links bewegen kann. Daher ist auch die Furcht des niedersächsischen Innenminister Schünemann, dass radikale Linke „bereits erfolgreich Teile des bürgerlichen Protestspektrums beeinflussen konnten“ berechtigt. [1] Im besten Sinne einer Linken, die sich einmischt, haben wir den Rahmen von legitimem Protest erweitert und Schottern hat seinen Platz in der Gesamtchoreografie des Widerstandes gefunden. Neben den bewährten Sitz-, Material- oder Treckerblockaden ist seit diesem Jahr auch die kollektive Schienenunterhöhlung und der Selbstschutz vor prügelnden Polizist_innen ein Teil der legitimen Protestformen des Wendland-Widerstandes.
Von nichts kommt nichts – Bedingungen des Erfolgs
Aus unserer Sicht gibt es verschiedene Elemente, die für das Gelingen der Kampagne sorgten. Ein wichtiger Aspekt war die Vorbereitung und die Entschlossenheit der Teilnehmenden. Die öffentliche Ankündigung im Vorfeld, die Verabredung eines verbindlichen Aktionskonzeptes und die Durchführung von hunderten Aktionstrainings und Infoveranstaltungen waren die notwendige Bedingung für das Kräftemessen mit dem Atomstaat. Im kollektiven Prozess wurde so ein organisatorischer Rahmen geschaffen, der den Interessierten ermöglichte, die Aktion und die damit einhergehenden persönlichen Risiken besser einzuschätzen. Selten haben wir in den letzten Jahren Aktivist_innen erlebt, die derart gut vorbereitet und mit dem unbedingten Willen, das gemeinsam formulierte Ziel zu erreichen, zu einer Aktion angereist sind.
Neben der beschriebenen guten Ausgangslage war auch die professionelle Pressearbeit eine wesentliche Grundlage für die Wahrnehmbarkeit der Kampagne. In dem nicht leicht zu beherrschenden Medienöffentlichkeits-Dschungel ist es der Pressegruppe zumeist gelungen Oberwasser zu behalten. Der Tenor der Berichte war in den meisten Fällen: “Schottern ist zwar nicht legal, aber Tausende werden es tun und sind überzeugt, dass Schottern legitim ist!” Der offene Umgang mit Pressevertreter_innen hat sich bewährt. Ein strategischer Umgang mit der Öffentlichkeit muss den Versuch unternehmen, den Medienleuten wie auch allen anderen die Möglichkeit zur Identifikation mit unseren Inhalten und Hintergründen zu bieten. Nur so können wir gegen die etablierten Formen und Inhalte der Medien und gegen die Macht der Polizei-Pressemitteilungen ankommen. Auch wenn die „embedded journalists“, die in den Fingern mitgelaufen sind, nicht zu dem erwünschten Schutz vor Polizeigewalt geführt haben und sie sogar selbst teilweise angegriffen wurden, sollte auf dieses Konzept zukünftig aufgebaut werden.
Darüber hinaus war das gelungene Zusammenspiel und die Ergänzungen der unterschiedlichen Aktionsformen zentral: Während uns die Bäuerliche Notgemeinschaft mit Traktoren und andere mit Materialblockaden den Weg frei gemacht haben, gab es mit den Sitzblockaden von X-tausendmal-quer und von WiderSetzen praktische Synergieeffekte. Daneben fanden eine ganze Reihe von Blockaden kleinerer Gruppen im und außerhalb des Wendlands statt. Insgesamt wurden durch gute Abstimmung oder schlicht durch chaotische und nicht-überschaubare Situationen viele Polizeikräfte gebunden, Räume geöffnet und diese erfolgreich genutzt. Letztlich geht es nicht darum, welche Aktionsform den Castor am Längsten aufgehalten hat. Es ist auch müßig zu spekulieren, wie lange die Reparatur der diversen geschotterten Schienenabschnitte gedauert hat. Wichtig ist das Gesamtergebnis des gesamten Widerstands. Weil sich die Diskussion um die Nutzung der Atomenergie vor allem mit Blick auf die Durchsetzbarkeit der Transporte nach Gorleben entspannt, ist die Verzögerung der Transporte die Möglichkeit, eine eindeutige Absage an die Atomstrom und andere klimaschädliche Energiegewinnung zu formulieren. Jede Stunde Verzögerung ist im Kontext dieser öffentlichen Debatten stets das praktisch gewordene und nicht-integrierbare Nein zur Fortführung der Atompolitik.
Unter dem Strich – Was bleibt?
Trotz der erfolgreichen Proteste müssen wir einiges kritisch hinterfragen. Wie so oft blieben wegen der wenigen personellen Ressourcen und des hohen Planungs- und Koordinationsaufwands die Inhalte auf der Strecke. Obwohl dieses Jahr wesentlich öfter als zuvor von der „Vergesellschaftung der Energiekonzerne“ die Rede war, haben wir es nicht geschafft, mit einer antikapitalistischen und globalen Perspektive in die Diskussion sichtbar zu werden. Ein Aspekt, der in Zukunft ausgebaut werden muss und der die Protestbewegungen von der schlichten Koexistenz hin zu einer gemeinsamen Grundlage bringen kann. Außerdem fragen wir uns, ob angesichts des massiven und überzogenen Polizeieinsatzes gegen uns, Aktionen wie Schottern mit dem formulierten Aktionskonzept verantwortbar umgesetzt werden können. Es war ebenso krass wie skandalös zu erleben, dass die Einsatzleitung mit größtmöglicher Härte vorgegangen ist – ungeachtet der Aufforderungen zur Verhältnismäßigkeit von vielen Seiten im Vorfeld und der Medienbegleitung bei der Aktion selbst. Trotz der Ankündigung, dass von unserer Seite keine Angriffe ausgehen würden, hatte es die Polizei mit Reizgas, Knüppeln, Wasserwerfern und Pferden auf ernsthafte Verletzungen abgesehen. Die Bilanz: zahlreiche leichte Verletzungen durch Pfefferspray und einige schwerere durch Knochenbrüche. Nur den körperschützenden Maßnahmen, der guten Vorbereitung sowie der massenhaften Beteiligung ist es zu verdanken, dass die Verletzungen nicht noch schwerer ausgefallen sind. Außerdem gilt es in Zukunft die gemachten Erfahrungen mit dem Finger-Konzept zu analysieren, weiterzuentwickeln und zu kommunizieren. Trotz aller Vorbereitung ist uns klar geworden, dass wir mehr Orte benötigen, an denen wir aktionistisch experimentieren können.
Es ist deutlich geworden, dass die klare Kommunikation des Aktionsziels und der angewandten Mittel elementar für eine breite Einbindung von Menschen ist. Bereits Monate vorher wurde das Aktionsbild festgelegt und seitdem klar kommuniziert. Dabei ging es vor allem darum, einen berechenbaren und verbindlichen Raum für alle Beteiligten zu schaffen und auf diese Weise mobilisieren zu können. Dank der Weite des ländlichen Raum ist das Finger-Konzept ist eine ausgezeichnete Taktik, um Polizeiketten zu durchfließen und zu umgehen –. Außerdem ist es dank der seit Jahren im Wendland praktizierten Unterteilung von Bezugsgruppen in Händen und Fingern möglich, dass große Gruppen koordiniert vorgehen, statt in Kleingruppen umherzuirren. „Castor? Schottern!“ war das Angebot an eine antikapitalistische Linke, ihrer Kritik eine praktische Ausdrucksform zu geben. Wegen der zu erwartenden Eskalation von Seiten der Polizei war das Aktionsniveau höher als bei den Sitzblockaden. Auch hier gilt: Es gibt nicht die richtige Aktionsform, wichtig ist die Einheit in Vielfalt. Das war allen Beteiligten bewusst, was sicherlich dazu beitrug, dass es weder im Vor- noch im Nachhinein nennenswerte Distanzierungen gab. Wir werten das als Resultat der transparenten Kommunikation nach außen wie auch der Diszipliniertheit, mit der alle das Aktionsbild eingehalten und so Verantwortung gegenüber der Aktion und der Teilnehmenden gezeigt haben.
Mit der Aktion wurde eine kollektive Erfahrung von Massenmilitanz geschaffen. In einer unversöhnlichen, aber berechenbaren Aktion haben sich Tausende der herrschenden Ordnung entgegen gestellt und erfahren können, dass durch massenhaften Ungehorsam erhebliche Handlungsspielräume entstehen können. Die Bilder von tausenden weißen Overalls, von der massenhaften Polsterung und den Schlauchboote, Planen sowie anderen Gegenstände zum Schutz vor Polizeiangriffen wecken Erinnerungen an die Aktionen der italienischen Disobedienti und sind für zukünftige regelverletzende Aktionen ausbaufähig. Die Erfahrungen des Selbstschutzes, der kollektiven Anonymität und der Zielstrebigkeit im Hinblick auf das formulierte Ziel haben sich in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben. In Zukunft können wir auf die gemachten Erfahrungen zurückgreifen und darauf aufbauen. Wir verstehen das als einen weiteren Schritt einer experimentellen Praxis des massenhaften Ungehorsams, den wir bspw. gegen das Treffen der G8 in Heiligendamm und in Dresden bei der Verhinderung des Nazigroßaufmarschs im Februar praktiziert haben.
Probieren geht über studieren
Alles in allem war der Widerstand gegen den Castor in vielerlei Hinsicht ein Labor für die radikale Linke, das in Zukunft weiterhin als solches verstanden und genutzt werden sollte. Nicht nur mit Blick auf Bündnispartner_innen, die oft schwierige gemeinsame Entscheidungsfindung und das Aushalten von Differenzen. Auch der temporäre Zustand einer solidarischen Gesellschaft im Wendland, produziert wichtige Erlebnisse, um eine Welt jenseits von Individualisierung und Konkurrenzdruck denken zu können. Vor allem aber ist das Wendland der Ort, an dem wir zu Tausenden zusammen kommen können, um einerseits Aktionsformen zu testen und zu verfeinern und andererseits unsere Handlungsmacht erkennen und nutzen können. Hier wird es möglich, kollektiv das staatliche Gewaltmonopol bewusst zu unterlaufen und gleichzeitig das Gegenprojekt zu einer Gesellschaftsordnung, die auf den Müllhaufen der Geschichte gehört, zu formulieren: eine Gesellschaft, die bspw. die Energiegewinnung nach den Bedürfnissen der Menschen organisiert und in der die Bedingungen für das gute Leben für alle von allen ausgehandelt werden.
Was abzuwarten bleibt, ist die Repression. Die Staatsanwaltschaft Lüneburg hat im Vorfeld Strafverfahren gegen alle eingeleitet, die im Internet angekündigt haben zu schottern. Zwar ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass gegen über 1.700 Personen und Initiativen tatsächlich Verfahren geführt werden. In diesem Zusammenhang ebenso wie für die wenigen Personalienfeststellungen bei der Aktion gilt: Die Repression geht uns alle an und keine_r wird alleine gelassen. Klar ist auch, dass wir mit der Aktion den Staat ernsthaft herausgefordert haben und dass die Repressionsorgane sich eine Gegenstrategie überlegen werden. Sie wissen, wenn wir als radikale Linke weiterhin als verlässliche Partner_innen breite Bündnisse schmieden, erfolgreich Aktionsformen radikalisieren und unsere Kritik an ihrem Herrschaftsprojekt verbreitern, dann haben sie ein Problem. In der Zwischenzeit werden wir nicht abwarten, sondern im Wendland und anderenorts weiter im Labor des Widerstandes experimentieren. In der Gewissheit, dass es 1:0 für die radikale Linke steht.
Für eine linke Strömung (FelS) im November 2010
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[1] Regierungserklärung von Innenminister Uwe Schünemann zum Castor-Transport: http://www.mi.niedersachsen.de/live/live.php?navigation_id=14797&article…