Vor gut 30 Jahren [erhielt] der amerikanische Semiotiker Thomas A. Sebeok von der damaligen amerikanischen Regierung den Auftrag, ein Zeichensystem zu entwerfen, das unser Wissen von heute über die Lagerungsorte, über die physikalischen Eigenschaften und gesundheitlichen Gefahren von Atommüll für die lange, eigentlich undenkbare Zeit von vierundzwanzigtausend Jahren sicherstellen könnte. Blicken wir um diese Zeitspanne, die Halbwertzeit von Plutonium, zurück, dann existierte vor zwanzigtausend Jahren eine steinzeitliche Menschenwelt ohne Schrift, ohne Technik, ohne Kultur im heutigen Sinne. Die in jener Zeit gesprochenen Sprachen verstehen wir nicht mehr, ganz abgesehen davon, dass darüber keine Zeugnisse existieren. […]
Was hat er vorgeschlagen? Er unterbreitete der Regierung die Idee, eine „Atompriesterschaft“ zu gründen. Diese würde einen Orden von Physikern, Semiotikern, Linguisten bilden, die die sichere, redundante, fehlerfreie Verwaltung des Wissens über Lager und nukleare Wüsten in ihre Hände nähmen. Sie trügen die Verantwortung für die ununterbrochene Überlieferung dieses Wissens und hätten das über einen in der menschlichen Geschichte unvorstellbaren Zeitraum hinweg zu gewährleisten. (Tagesspiegel vom 3.4.2011)
Dass Atomkraft und demokratische Verhältnisse, um von Herrschaftsfreiheit mal zu schweigen, sich grundlegend widersprechen, hat Robert Jungk im Begriff des Atomstaates zu fassen versucht. Die meisten denken beim Stichwort Atomstaat wahrscheinlich an die prügelnde Staatsmacht im Wendland, die Castor-Behälter gegen den Widerstand der Bevölkerung durchsetzten will. Der Atomstaat steht aber für mehr. Großtechnologie in dieser Dimmension braucht einen Staat, der im Falle des GAUs über den Ausnahmezustand wacht und Evakuierungsmaßnahmen durchsetzt. Die Atomkonzerne brauchen den Staat, weil sie ohne dessen jahrzehntelange Subjevtionen und die staatlich geförderte Grundlagenforschung AKW nicht mit Profit betreiben könnten (von wegen Atomstrom ist billig). Atomkraft ist ohne einen Atomstaat nicht denkbar. Dass im Fall des Fukushima-Betreibers Tepco nun offen über eine Verstaatlichung nachgedacht wird, ist also konsequent (die “Kosten” des GAUs werden ja ohnehin sozialisiert).
Dass dem oben zitierten Herrn Sebeok mit Blick auf die Risiken der Atomkraft keine andere Idee als eine “Atompriesterschaft” kam, ist bezeichnend. Es ist wohl so zu verstehen, dass er dem Atomstaat, also den gegenwärtigen Herrschaftskomplex aus Staat und Kapital, misstraut, weil ihre Herrschaft nicht langfristig abgesichert ist. Demokratietheoretisch betrachtet impliziert Atomkraft für ihn also eher mittelalterliche Verhältnisse. Ein wichtiges Argument dafür, Atomanlagen sofort stillzulegen. Und ein wichtiges Argument dafür, dass das alleine nicht reicht.
Der Anti-Atom-Bewegung ging es darum auch immer um eine andere Gesellschaft. Es ging ihr immer auch gegen die völlig verrückte Annahme, Staat und Konzerne könnten über solche folgenreichen Technologiepfade und über Energiepolitik insgesamt entscheiden.