Anti-Castor-Initiativen sagen Nein zum Gespräch mit der Polizei
In einer gemeinsamen Erklärung wiesen in der letzten Woche die Bäuerliche Notgemeinschaft, die Bürgerinitiative Umweltschutz, widerSetzen, X-tausendmal quer, das widerStandsNest Metzingen, der Ermittlungsausschuss Wendland und die Kampagne Castor Schottern eine Einladung der Zentralen Polizeidirektion Niedersachsen zur gemeinsamen Auswertung der Castor-Proteste zurück. Wir dokumentieren den offenen Brief:
“Sehr geehrter Herr Brettschneider,
sehr geehrter Herr Felgentreu,
wir haben die Einladung zu einem Nachbereitungsgespräch erhalten, die an die Bürgerinitiative Umweltschutz, Bäuerliche Notgemeinschaft, Widersetzen, X- tausendmal quer und andere Gruppen des Gorleben Widerstandes gerichtet war.
Die genannten Initiativen sind nach einem gemeinsamen Treffen zu dem Ergebnis gelangt, dass Gespräche mit der Polizei, insbesondere dem SWD (Sozialwissenschaftlichen Dienst) Niedersachsen, zur Auswertung des polizeilichen Einsatzes zur Durchsetzung des Castortransportes nach Gorleben weder zielführend noch sinnvoll sind.
Einer der maßgeblichen Gründe dieser Absage liegt für alle Unterzeichnenden in den Erfahrungen mit der polizeilichen Ausgestaltung des letzten Castor-Transportes nach Gorleben. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit verweisen wir
* auf den Reizgaseinsatz auf den Wegen zur Göhrde und in der Göhrde am 8.11. sowohl durch Angehörige der Bundes- als auch der Landespolizeien, der zu mehr als 500 Verletzten auf Seiten der DemonstrantInnen führt
* auf den brutalen Einsatz eines französischen CRS-Polizisten in Leitstade und an anderen Orten in der Göhrde am 8.11., der solange durch die Polizei und die Innenministerien geleugnet wurde, bis das Vertuschen sinnlos war
* auf den in Bildaufnahmen belegten Einsatz eines polizeilichen Sanitäters am 8.11., der mit seinem Rucksack auf DemonstrantInnen einschlägt und von seinen KollegInnen nicht gebremst wird
* auf Schläge und Tritte durch Angehörige der Bundes- und der Landespolizeien gegen am Boden liegende DemonstrantInnen am 8.11. in der Göhrde
* auf eine Vielzahl von angewandten Schmerzgriffen sowie Androhung von körperlicher Gewalt bei der Räumung der Schienenblockade in Harlingen in der Nacht vom 8. auf den 9.11. Laut UN-Antifolterkonvention ist jede Handlung als Folter zu werten, bei der Träger staatlicher Gewalt einer Person „vorsätzlich starke körperliche oder geistig-seelische Schmerzen oder Leiden“ zufügen oder androhen, um eine Aussage zu erpressen, um einzuschüchtern oder zu bestrafen auf Verletzungen durch brutales Vorgehen bei der Räumung der Sitzblockade Harlingen, u.a. durch das Fallenlassen von DemonstrantInnen mit dem Kopf in das Gleisbett und dadurch verursachte schwere Verletzungen
* auf mehr als 50 Verletzte durch Reizgaseinsätze am Rande der Sitzblockade in Harlingen, obwohl der Gebrauch von Reizgas weder angeordnet noch zugegeben wurde auf den polizeilichen Einsatz von Pferden gegen DemonstrantInnen auf dem Weg zur Sitzblockade in Harlingen, der aufgrund des Einsatzsettings zu einer schwer verletzten Demonstrantin führte
* auf die Errichtung eines nur notdürftig und äußerst mangelhaft ausgestatteten Polizeikessels in Form einer sogenannten „Freiluftgesa“ am Ortsrand von Harlingen und auf die mehrstündige Ingewahrsamnahme von mehr als 1000 DemonstrantInnen unter freiem Himmel bei Minusgraden. Vor Ort setzte sich ein Rechtsanwalt dafür ein, dass Ingewahrsamgenommene in die dafür eingerichtete Gefangenensammelstelle nach Lüchow verbracht werden müssen, die einen richterlichen Notdienst mit drei Richtern eingerichtet hatte. Hierzu ist in den vergangenen Jahren ein Urteil erstritten worden. Mit Verweis auf fehlendes Polizeipersonal zur Durchführung dieser Maßnahme fand die Unterbringung rechtswidrig in der sog. „Freiluftgesa“ statt.
* auf die mehrfach verweigerte Kontaktaufnahme von In-Gewahrsam-genommenen DemonstrantInnen mit einem gesetzlichen Richter zur Überprüfung des Grundes und der Fortdauer der angewandten polizeilichen Maßnahme – nichts anderes als eine Außerkraftsetzung des Rechtsstaates
* auf den erstmaligen Einsatz einer Überwachungsdrohne am 8.11. im Raum Grippel, der an ein Bürgerkriegsszenario erinnert und AnwohnerInnen nicht kommuniziert wurde
* auf mehrfach ausgesprochene stundenlange Verbote für AnwohnerInnen in Grippel, Quickborn und Gorleben, ihre Häuser oder Grundstücke verlassen zu können, so dass sie beispielsweise nicht zur Arbeitsstelle gelangen konnten
* auf von vermummten Polizeikräften durchgeführte Durchsuchungen von Anwesen in Gusborn und Grippel und dabei durchgeführte Beschädigungen im Gebäude in Gusborn
* auf den Einsatz von Reizgas gegen KletteraktivistInnen kurz vor dem Start des Castorzuges am Verladekran Dannenberg nahe der Ortschaft Laase , die sich in viereinhalb Metern Höhe befanden und einen durch diesen Reizgaseinsatz zum Absturz gebrachten Kletteraktivisten, der lebensbedrohliche Verletzungen durch den unangemessenen Polizeieinsatz erlitt
* auf vielfache Beschädigungen an bäuerlichen Nutzfahrzeugen am 9. und 10.11. im gesamten Kreisgebiet
* auf Behinderungen und Bedrohungen von SanitäterInnen durch verschiedene Kräfte der Polizei
Im Gegensatz zu Ihrem Schreiben vom 13.12.2010 können wir in diesen Vorfällen keine gelungene Kommunikation erkennen.
Wir wollen nicht in Abrede stellen, dass es auch polizeiliche Einsätze, Maßnahmen und Kommunikation gegeben hat, die unseren Vorstellungen von verhältnismäßigem Vorgehen von Einsatzkräften gegenüber DemonstrantInnen entsprechen, wie z.B. bei der Räumung der Sitzblockade auf der Straße zwischen Gorleben und den Atomanlagen.
Ein maßvolles und verhältnismäßiges polizeiliches Verhalten an einem Ort kann ein unverhältnismäßiges und brutales polizeiliches Vorgehen an einem anderen Orten nicht ausgleichen. Einen Einsatz, in dessen Gesamtverlauf vermutlich mehr als 1000 DemonstrantInnen durch polizeiliche Gewalt verletzt wurden, können und wollen die oben genannten Initiativen der Polizei nicht durchgehen lassen. Wir möchten dabei betonen, dass wir uns der polizeilichen Einteilung in verschiedene Gruppen von DemonstrantInnen nicht anschließen. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist für alle DemonstrantInnen und AktivistInnen gültig!
Bei Kooperationsgesprächen im Rahmen des Versammlungsgesetzes mit VertreterInnen der Polizei und anderer Behörden waren zeitweilig Angehörige des SWD zugegen. In allen Gesprächen haben die VertreterInnen der Anti-Atom-Initiativen betont, dass der Protest und der Widerstand gegen den Castortransport nach Gorleben ein demokratisches Mittel darstellt, die Polizeitaktik keiner Ordnungslogik für einen schnellen und reibungslosen Ablaufs des Castor-Transportgeschehens unterliegen darf. Alle VertreterInnen der Anti- Atom- Initiativen haben wiederholt geäußert, dass ihre Forderungen an die Polizei nach einem verhältnismäßigen Vorgehen für alle DemonstrantInnen gelten und dass sich die Initiativen solidarisch aufeinander beziehen.
Aus der Mitteilung der Niedersächsischen Landesregierung von Mitte November zum Auftreten internationaler Polizeikräfte beim Castor-Transport geht die Mitarbeit des SWD im Programm „Good practice for dialogue and communication as strategic principles for policing political manifestations in Europe“ (GODIAC) hervor. Weder die deutschen noch die europäischen Projektbeteiligten haben den Start dieses Programms und dessen Feldforschungstätigkeit beim Castor-Transport vorher bekannt gegeben. Dieses Vorgehen des SWD ist ein Fall nicht hinnehmbarer Intransparenz. Es verstößt gegen Grundsätze wissenschaftlicher Ethik. Die unterzeichnenden Initiativen lehne es ab, als unfreiwillige Objekte internationaler polizeilicher Untersuchungen herzuhalten. Nicht wenige haben die Erfahrung gemacht, dass polizeiliche Datenbestände fragwürdig zustande kommen und für die Betroffenen in der Regel nicht transparent und kontrollierbar sind. Diese Eingriffe in Persönlichkeitsrechte können für Betroffene unvorhersehbare Folgen wie Platzverweise und Ingewahrsamnahmen, aber auch Ausreiseverbote oder Vorladungen zu erkennungsdienstlichen Maßnahmen haben.
Unter den genannten Umständen versprechen sich die unterzeichnenden Initiativen nichts von einer gemeinsamen Auswertung mit der Polizei und lehnen deshalb ein Gespräch mit dem Sozialwissenschaftlichen Dienst der Zentralen Polizeidirektion und der Polizei ab.
Eine Auseinandersetzung mit dem Polizeiapparat scheint uns nicht der geeignete Ersatz, um politisch notwendige Diskussionen zu führen.
Die Auswertungen des Castortransports und dessen polizeiliche Durchführung gehören in die öffentliche politische Debatte. Grundlage hierfür sollte eine Verständigung über die Bedeutung und Gefährdung demokratischer Rechte in Zeiten der staatlichen Durchsetzung von Interessen der Energiewirtschaft sein. Ansprechpartner sind für uns deshalb die politisch Verantwortlichen und die Verbände wie die Gewerkschaft der Polizei. Dieser Brief kann ein Teil solch öffentlicher Auseinandersetzung sein. Er geht deshalb nicht nur an Sie, sondern auch an weitere Initiativen und die geneigte demokratische Öffentlichkeit zur Kenntnis.
Mit freundlichen Grüßen
Bäuerliche Notgemeinschaft +++ Bürgerinitiative Umweltschutz +++ widerSetzen +++ X- tausendmal quer +++ widerStandsNest Metzingen +++ Ermittlungsausschuss Wendland +++ Kampagne Castor? Schottern!”