– ein Text von Wolf Wetzel
Die Mär von der friedlichen Nutzung der Atomenergie
Dem nachfolgenden Text liegen folgende Thesen zugrunde: Die Behauptung von der Beherrschbarkeit der Atomenergie ist widerlegt, selbst wenn man den idealen Fall annimmt, dass alle technischen Möglichkeiten ausgeschöpft wurden.
Das Restrisiko der Atomenergie ist nicht mit Technologien zu vergleichen, die ebenfalls mit einem solchen leben. Bekanntermaßen ist im Kapitalismus alles versicherbar – nur keine Atomkraftwerke. Nicht anders verhält sich mit der Haftungspflicht. Ausschließlich bei der Atomenergie existiert sie nicht – bzw. in einer lächerlich symbolischen Größe. Dieser haftungslose Zustand gilt in Deutschland wie in Japan: “Ein Gesetz von 1961 begrenzt die Haftung für Tepco auf 120 Milliarden Yen (umgerechnet eine Milliarde Euro), falls die Ursache für die Reaktorprobleme eine schwere Naturkatastrophe mit Ausnahmecharakter ist. Alle anderen Kosten müsste der Staat übernehmen.“ (FR vom 29.3.2011)
Das Restrisiko kommt einer Kriegsdrohung (gegen die eigene Bevölkerung) gleich.
Die Behauptung, dass die zivile von der militärischen Nutzung der Atomenergie zu trennen ist, ist mehrfach widerlegt: Indien, Pakistan, Korea, Israel haben allesamt die zivile Nutzung der Atomenergie dazu genutzt, an das Material für eine Atombombe zu erlangen, mit Erfolg.
Die zivile Nutzung der Atomenergie ist immer die Tür zur militärischen Nutzung, sie beinhaltet für alle Regierungen die Option auf die Atomwaffe.
Seit ein paar Jahren wird die iranische Regierung verdächtigt, mithilfe der zivilen Nutzung der Atomenergie ein Atomwaffenprogramm zu realisieren. Diejenigen, allen voran die westlichen Atommächte, wissen wovon sie reden. In der Tat ist der Übergang zwischen ziviler und militärischer Nutzung fließend. Im schlimmsten Fall bedient sich die iranische Regierung derselben Wege und Täuschungen, wie andere (befreundete) Staaten auch.
Der folgende Beitrag zeichnet nach, dass man zur Bestätigung dieser Annahmen nicht in den Iran reisen muss, man kann all dies sehr genau an der Atompolitik Deutschlands nachzeichnen.
Denn genau das, was man heute der iranischen Regierung vorwirft, hat die Bundesrepublik Deutschland in den 70er und 80er Jahren mit Vehemenz, Effizienz und Erfolg betrieben. Mitte der 80er Jahre war die deutsche Regierung sowohl im Besitz waffenfähigen (hochangereichertem) Kernmaterials, also auch im Besitz des Know-Hows zur Herstellung von Atombomben. Wie in allen anderen Fällen auch, wurde die zivile Nutzung der Atomenergie als Schutzschuld, als Verblendung benutzt. Ob die Option einer deutschen Atombombe im Einverständnis mit anderen (westlichen) Atommächten verfolgt wurde oder ob der behauptete Proliferationsschutz1 nirgendwo funktioniert, sei dahingestellt.
***********************
Der Text ist in eine Erzählung gekleidet. Die beiden Protagonisten der Geschichte sind fiktiv, alle Details, Orte und Namen sind echt.
Ausgangspunkt sind Gedanken und Empfindungen, die nach dem Bekanntwerden des GAU in Tschernobyl Mitte 1986 herrschten, nachdem nicht mehr dementierbar war, dass auch das Leben in Deutschland radioaktiv verseucht wurde.
Die Protagonisten folgen dem fließenden Übergang zwischen ziviler und militärischer Nutzung der Atomenergie in Deutschland. Gleichzeitig kommt auch das Bemühen zum Ausdruck, aus der Rolle des Zuschauens und des Kommentierens herauszukommen…. So wurden nach Tschernobyl, als Antwort auf Tschernobyl über 150 Hochspannungsmasten gefällt…
Samstag, 26. April 1986, 1 Uhr, 23 Minuten, 40 Sekunden. Im Block 4 des Atomkraftwerkes Tschernobyl explodieren 180.000 Kilogramm hochradioaktives Material aus dem Inneren des Reaktors. Das entspricht der Menge von 1.000 Hiroshima-Bomben … Als die ferngesteuerten Maschinenroboter, die u.a. das Dach von den Graphitblöcken reinigen sollten (…) wegen der hohen Radioaktivität nicht funktionierten, wurde eine riesige Armee menschlicher Roboter eingesetzt, die Liquidatoren (…) Viele Liquidatoren, schätzungsweise zwischen 50.000 bis 100.000, sind gestorben, und 90 Prozent von ihnen sind schwer erkrankt. In absoluten Zahlen ausgedrückt bedeutet das: 540.000 bis 900.000 junge Männer sind infolge von Tschernobyl schwer erkrankt.2
Ganz langsam, spärlich, in geradezu homöopathischen Dosen sickerten Nachrichten über den GAU im Atomkraftwerk Tschernobyl/Sowjetunion nach Deutschland. Proportional zu den Beschwichtigungen und Verharmlosungen deutscher Politiker und Wissenschaftler stiegen die Radioaktivität und die staatlich festgesetzten ›Grenzwerte‹ an. Gemüse, Frischobst, Milch wiesen hohe radioaktive Dosen aus, ganz zu schweigen von Lebensmitteln, die aus Osteuropa importiert wurden.
Auch Clara und Johan stiegen auf das Konservenleben um. Manchmal, wenn sie es sich leisten konnten und wollten, hatten sie im Naturkostladen eingekauft. Jetzt hatte sich dieser kleine Luxus erledigt. Wenn sie etwas ›Frisches‹ kauften, dann achteten sie darauf, dass es aus den Agrarfabriken kam, aus luftdichten Gewächshäusern. Lebensmittel, die mit der Rest-Natur nicht mehr in Kontakt kamen, dafür mit jeder Menge synthetischem Dünger und Pestiziden.
»Das ist doch unglaublich!« stieß Clara aus.
»Was denn?«
Johan biss in sein Brötchen, belegt mit käse-simulierenden Scheibletten.
»Das musst du dir auf der Zunge zergehen lassen. Da stellt sich doch glatt der Innenminister Zimmermann hin und behauptet, dass es für Menschen nur eine Gefahr im Umkreis von dreißig Kilometern des geschmolzenen Reaktorkerns gebe. Wahrscheinlich kann man seine Lügen mittlerweile in Becarell messen.«
»Für manche müsste Krebs sofort wirken, auf der Stelle.«
»Ich habe auch einen todsicheren Vorschlag. Wir siedeln alle Politiker, Wirtschaftsbosse und Wissenschaftler, die gesamte Atomlobby um, sagen wir einmal, im Radius von fünfzig Kilometern rund um Tschernobyl. Das wäre erstens liberal, zweitens die friedlichste Form der Osterweiterung und drittens ein Beitrag zum Ende des Kalten Krieges.«
»Ich weiß nicht, ob unserer Zynismus mit Tschernobyl mithalten muss. Die einen beschwichtigen, lügen, dass sich die Balken biegen. Wir stoßen bedeutungslose Todesdrohung aus und zusammen schlagen wir uns durch den Becarell-Parcours. Das ist auch eine Form von friedlicher Koexistenz.«
»Also komm, sei ein bisschen gnädiger, Johan. Die Kundgebung, kurz nach Tschernobyl, mit über 10.000 Menschen vor dem Römer in Frankfurt war doch wirklich erfrischend?«
»Ja, die hat mir gut gefallen …«
»Na, also, jetzt strahlst du schon wieder«, warf Clara dazwischen – und einen Kuss dazu.
»Von wegen strahlen … So viel verstrahltes Gemüse landete wohl noch nie im Römer, auf diesem Weg … Die einzige Form der sicheren Entsorgung und alles ganz nach dem Verursacherprinzip.«
»Apropos Entsorgung. Vergiss’ die Demo in Hanau im November nicht, gegen Alkem-Nukem. Die wird riesig und alles andere als eine Becarell-Ini-Besorgnis-Veranstaltung.«
»Warten wir’s ab … und überlassen dabei nichts dem Zufall.«
Eine Woche später.
Clara und Johan beugten sich über die Stadtkarte von Hanau und suchten nach dem Ortsteil Wolfgang.
»Da ist es.«
Mit dem Finger zeigte Clara auf eine große graue Fläche, die wie zwei aneinandergrenzende, leicht versetzte Rechtecke aus dem Wald herausgeschnitten wurde. Das eine Rechteck hatte der US-Army gehört, das etwas größere beherbergte das Who is Who der Atomfirmen: Plutonium-Fabrik Alkem GmbH, Siemens Reaktorbrennelementewerk/RBG, Transnuklear GmbH, Hochtemperaturreaktor-Brennelemente GmbH/Hobeg, Nuklear Ingenieur Service/NIS usw. Das Ganze wirkte wie eine deutsche Version von Silicon Valley, buchstäblich aus dem Boden gestampft, weit abseits und doch zentral gelegen: Auf der einen Seite eine große Bundesstraße, die Aschaffenburger Straße, auf der anderen Seite das Hanauer Kreuz, eine direkte Verbindung zur Autobahn.
»Also in der Nähe können wir nicht parken. Das ist unmöglich.«
»Und aus der Karte geht nicht hervor, wo sich die einzelnen Firmen genau befinden. Das kann ja lustig werden«, fügte Johan hinzu. Sie überlegten, wo sie ihr Auto abstellen könnten.
»Lass uns das Auto hier in der Siedlung abstellen. Von dort aus können wir durch den Wald gehen und uns ein ruhiges Plätzchen suchen.«
Clara zeigte auf eine Stichstraße, die den Atomkomplex direkt mit der Anschlussstelle Hanau-Wolfgang verband.
»Ja, einverstanden. Ist das nicht ein feiner, kostenloser Service des deutschen Verkehrsministers?«
Beide drückten ein Auge zu, packten die Karte ein und verließen die Wohnung.
Es war bereits 22 Uhr, als die beiden ihr Auto abgestellt hatten und sich in Richtung Waldstück begaben. Am Rande konnte man den Zaun sehen, der mit Halogenstrahlern bestückt war. Das ganze Gelände war komplett ausgeleuchtet. Sie gingen weiter bis auf die Höhe der Stichstraße. Clara packte das Fernglas aus und suchte das Gelände ab.
»Na, wer sagt’s denn. Die Größten stehen doch immer in der ersten Reihe. Das ist der Haupteingang von Alkem/Nukem. Und rechts davon ist Nuklear Ingenieur Service. Das musst Du Dir anschauen.«
Sie reichte Johan das Fernglas. Direkt hinter dem Haupteingang befand sich ein großer Parkplatz, auf dem Privat-PKWs und mehrere Lkws standen. In manchen Räumen brannte noch Licht. Er konnte Angestellte sehen, die an ihren Schreibtischen saßen – und Überstunden machten. Ansonsten war nicht viel zu sehen. Alles andere wäre auch verwunderlich gewesen. Nachdem sich beide an die Dunkelheit gewöhnt und auch die Angst abgeschüttelt hatten, von irgendetwas überrascht zu werden, kamen Langweile und dann Zweifel auf.
»Meinst Du, wir bekommen hier etwas heraus? Wir würden doch nicht einmal James Bond oder den amerikanischen Außenminister von einem normalen Angestellten unterscheiden können.«
»Die Wahrscheinlichkeit, dass wir hier und jetzt Zeuge eines kriminellen Atom-Deals oder gar eines Verbrechens werden, sind wahrlich nicht groß. Es bleibt also alles beim Alten: Wir haben keine Chance, also nutzen wir sie.«
»Okay, ich bin bereit. Stell dir mal vor, Clara, in ein paar Minuten geht das Gebäude da vorne in die Luft und dahinter würde ein Auslandskommando der STASI stecken, die herausbekommen hätte, dass Alkem/Nukem an einem geheimen Atomwaffenprogramm arbeitet …«
»Dann hätte sich das Warten auf jeden Fall gelohnt …« Clara schmunzelte über diese Art, die Langweile zu besiegen.
»Und wir würden wegen eines Anschlages für Jahre in den Knast wandern, den wir nicht begangen haben«, beendete Johan ihren Gedanken, auf recht düstere Weise.
»Jetzt hab’ mal ein bisschen Vertrauen. Unsere sozialistischen Schwestern und Brüder drüben würden uns bestimmt gegen miese, westdeutsche Spione austauschen, verlass Dich drauf.«
»Ganz bestimmt, allerwerteste Genossin. Das Ganze würde auf der Brücke stattfinden, an einem nebligen Sonntag, wie in dem Agententhriller ›Der Mann, der aus der Kälte kam‹, von John le Carré. Hast du den einmal gelesen oder als Film gesehen?«
»Nein, aber ich sehe hier gerade etwas ganz anderes.«
»Johan, ich kann mich selbst verscheißern. Die Spannung ist eh kaum noch toppen.«
»Clara, jetzt hör mal auf damit. Die beladen gerade auf dem Parkplatz einen LKW. Siehst du die hochgeschlagene Plane und den Hubwagen mit den Behältern darauf?«
Johan reichte ihr das Fernglas.
»Ja, ja, die sind da gerade dabei, etwas einzuladen. Aber das kann alles oder nichts sein. Mit unserem tollen Fernglas kann man gerade noch sehen, dass es irgendwelche Behälter sind, die sie aufladen.«
»Kannst du sehen, ob die Behälter beschriftet sind?«
»Mein Liebster, du machst wohl Witze. Mit unserem Agentengerät hinken wir Lichtjahre den Errungenschaften der Moderne hinterher« und drückte Johan das Fernglas wieder in die Hand.
»Du hast recht, so leicht werden sie es uns nicht machen. Ich kann auch nichts auf den Behältern lesen.«
»Du traust auch nur deinen eigenen Augen.«
Johan ließ sich nicht ablenken und blieb konzentriert.
»Ich sehe etwas, was du nicht siehst …«
»Und das ist schwarz!« mit einer Kinderstimme beendend.
»Nein, ein Firmenschild an dem Gebäude, aus dem die Arbeiter herauskommen.«
»Und?«
»Hobeg, steht drauf. Aber das Kleingedruckte darunter kann ich nicht lesen.«
»Wieder einmal zahlt sich gute Vorbereitung aus. Der Name sagt mir gar nichts. Und dir?«
»Ich will es nicht beschwören, aber ich glaube, dass das die Firma ist, die Uran bzw. Plutonium für Kernkraftwerke herstellt.«
»Was willst du damit sagen? Dass in dieser Atomfirma auch Brennstoff hergestellt wird, klingt nicht gerade sensationell.«
Johan nahm das Fernglas herunter und tippte sich mit den Fingern an die Lippen.
»Ich bin doch auch kein Atomphysiker. Aber da war was … Warte mal ein Moment.«
Clara schaute Johan demonstrativ erwartungsvoll an und gab ihm Zeit.
»Verdammt noch mal, jetzt fällt’s mir ein. Wenn ich es richtig zusammenbringe, ist das Besondere folgendes: Eigentlich braucht man als Brennstoff für Kernkraftwerke nur schwach angereichertes Uran bzw. Plutonium. Hobeg stellt jedoch hoch angereicherten atomaren Brennstoff her …«
»Bahnhof, mein Liebster.«
»Offiziell wird das hoch angereicherte Uran für einen neuen Reaktortyp hergestellt. Ich habe den Namen vergessen …«
»Und, weiter.«
»Anti-AKW-Gruppen sagen, dass das nur die zivile Tarnung ist. Von wegen friedlicher Nutzung der Kernenergie, blah, blah. Wirklich brauchen tut man hoch angereichertes Uran bzw. Plutonium nur, wenn man es militärisch nutzen will. Für den Bau von Atombomben.«
»Meinst du nicht, dass die Fantasie mit dir durchgeht? Reicht dir nicht die zivile Nutzung der Atomenergie?«
»Doch. Aber wir werden selten gefragt, wann es uns zu viel wird. Und dass das alles spekulativ bleibt, liegt nicht an denen, die diese Mutmaßungen anstellen.«
»Das war nicht so gemeint.«
Clara stumpte Johan an.
»Nicht zanken, komm’.«
»Einverstanden.«
Johann’s Groll verzog sich. Mit beiden Armen umschlang er Clara.
»Hast du heute Nacht noch etwas vor?«
»Also ich habe jetzt meinen fetten Terminkalender nicht dabei. Das macht man nicht, wie du weißt.«
»Also hast du nichts vor. Ich mach’ dir einen Vorschlag.«
»Na, da bin ich aber gespannt.«
»Wir fahren dem LKW hinter her. Es ist doch ganz einfach: Niemand belädt nachts einen LKW und lässt ihn durch Deutschland und sonst wohin kreuzen, wenn es sich nicht um eine gefährliche Fracht handelt. Es muss Gründe geben, warum das alles nachts passiert. Wenn wir dem LKW folgen, werden wir zumindest herausbekommen, wer der Adressat dieser geheimnisvollen Ladung ist. Das wird nicht unbedingt die nächste Müllkippe sein.«
»Und mit dieser waghalsigen These schlagen wir uns die Nacht um die Ohren?«
»Ja, und mit uns beiden.«
Clara schaute Johan auf eine Art an, die jenseits des politischen lag und auf mehr als einer waghalsigen These beruhte. Johan spürte ein Kribbeln, das er so arg mochte, vor allem wenn es sich mit aufkommender Müdigkeit potenzierte.
»Und noch etwas, Clara. Siehst du Bullen, irgendwo?«
»Gott sei Dank, nicht.«
»Das meine ich nicht. Wenn der LKW heute Nacht noch das Gelände verlässt und es sich um einen angemeldeten Gefahrenguttransport handelt, dann müsste er von Bullen begleitet werden. Das ist Vorschrift. Verstehst Du, was ich damit meine?«
»Okay, ich gebe mich geschlagen. Lass’ uns schon mal zum Auto zurückgehen, wenn du mit allem Recht haben solltest. Aber du fährst.«
Zügig machten sich Clara und Johan auf den Weg. Johan warf einen letzten Blick auf das Haupttor.
»Na, was hab’ ich gesagt. Der LKW fährt auf das Tor zu.«
»Also, auf geht’s.« Clara versuchte Johan hinter sich herzuziehen.
»Wart’ mal kurz.« Johan fingerte am Fernglas herum.
»Ich kann die Aufschrift lesen, am Führerhaus. Transnuklear, ja, Transnuklear, ganz sicher.«
»Also geheimnisvoll ist der Name auf jeden Fall nicht. Komm’ jetzt endlich.«
Hanau-Wolfgang schlief, als sie ins Auto stiegen und losfuhren.
»Na, wenn das kein perfektes Timing ist.«
Johan zeigte mit dem Kopf nach vorne. Der LKW fuhr gerade aus dem Haupttor in Richtung Autobahnzubringer. Am Hanauer Kreuz nahm er die A 66 nach Fulda. Er war alleine, ohne Polizeibegleitung, ohne rotierendes Warnlicht auf dem Führerhausdach.
»Hoffentlich fährt der nicht an den Arsch der Welt. Sieht zumindest so aus, als wenn er Richtung Norden fahren würde.«
»Schade eigentlich. Wenn er nach Malville gefahren wäre, hätten wir anschließend einen kleinen Urlaub in Frankreich dranhängen können.«
»Zwei deutsche Topagenten in Frankreich, von beiden Regierungen gehasst und verfolgt.«
Clara dachte dabei an den wunderbaren Roman von Mario Simmel ›Es muss nicht immer Kaviar sein‹, der das genussreiche Leben eines Doppelagenten beschreibt, inmitten des Dritten Reiches …. mit exzellenten Kochrezepten garniert.
»Ja, das hört sich gut an, in einem französischen Café sitzen, am Straßenrand und deux cafés au lait bestellen, s’il vous plait.«
»Vive la france atomique, ma chérie«.
Johan drückte ihr pantomimisch einen Kuss auf die Wange. Der LKW nahm hinter Fulda die Autobahn A7 Richtung Hannover/Hamburg.
»Hast du eine Ahnung, wo der hinfahren könnte?«
»Keinen blassen Schimmer. Ich kenne nur das AKW Brokdorf. Das müsste irgendwo in dieser Richtung liegen.«
»Brokdorf … Das war meine erste Begegnung mit der Anti-AKW-Bewegung.«
Auf nach Brokdorf!
Da die Demo von der Polizei verboten war, war allen klar: Es wird nicht leicht, an den Bauzaun zu gelangen. Dementsprechend entschlossen und phantasiereich traten die einzelnen Konvois auf. Nur zwei Beispiele: Der Südzug aus Göttingen und Hessen wurde auf der Autobahn weit vor Hamburg gestoppt. Kurzentschlossen montierten Hunderte die Leitplanken ab und die Autos und Busse fuhren auf der Gegenfahrbahn an der Polizeisperre vorbei. Wir Bremer fuhren nachts um ein Uhr mit fast 10.000 AKW-Gegnern los, mußten wegen einer Polizeisperre die Autobahn vor Rotenburg verlassen und schlängelten uns auf Bundesstrassen bis nach Hamburg-Harburg, wo wir wieder unbehelligt die Autobahn nach Norden benutzen konnten. Wir hatten nicht nur Kradmelder dabei, die uns immer über die nächsten Bullensperren informierten, sondern auch einen Piratensender, der den zehn Kilometer langen Konvoi auf dem Laufenden hielt. Es wurden auch noch ein paar gezielte Falschmeldungen über unsere Route durch den Äther gejagt, so dass die mitfahrenden Zivis mit ihren (falschen) Richtungsmeldungen ihre Einsatzleitung vollends verwirrten.3
»Viel mehr weiß ich auch nicht«, fügte Johan hinzu.
»Doch, die Anti-AKW-Bewegung war in dieser Gegend ziemlich stark. Es gab ja mehrere Demos gegen das geplante AKW in Brokdorf, Anfang der 80er Jahre. Auf welcher ich dabei war, weiß ich nicht mehr. Aber so etwas hatte ich noch nicht erlebt. Tausende von gut ausgerüsteten Demonstranten, mit Helmen, Gasmasken, wasserdichten gelben Öljacken und dicken, langen Seilen, die zu zweit auf einer Stange getragen werden mussten, mit Enterhaken am Ende. Ich werde das Bild nie vergessen, als Hundertschaften von Bullen mehrere Ketten hintereinander bildeten und auf breiter Front vorgingen, um die Demonstration davon abzuhalten, zum Bauzaun vorzudringen. Das Ganze sah aus wie in einem alten Römer-Film. Im Hintergrund das Fort, davor die Legionen, die in Reih und Glied, hinter einer geschlossenen Schilderwand, auf vielleicht drei Kilometer Breite auf den Feind zumarschierten. Um einiges ungeordneter sah unsere Rückwärtsbewegung aus. Ich fand mich bereits mit diesem Ende ab, als plötzlich ein Pulk von hunderten Demonstranten stehen blieb und die Richtung änderte. Von weit hinten sah das wie bei Asterix und Obelix aus. Martialische Überlegenheit auf der einen Seite, wilde Entschlossenheit auf der anderen. Der wilde Haufen ging wie ein lebender Rammbock auf die Polizeiketten zu. Diese Bullen wichen zurück, die Einsatzleiter forderten, aus sicherer Entfernung, zum Stehenbleiben auf. Es entstand eine Delle, in der es drunter und drüber ging, hin- und herwogte. Alles kam zum Einsatz. Knüppel, Schilder, Fäuste, Steine, Füße. Wir schauten fassungslos dorthin. Die Bullen, die uns zurückdrängen sollte, taten das Gleiche. Gemeinsam stellten wir die feindseligen Handlungen ein und warteten auf eine Art Vorentscheidung. Nach vielleicht zehn Minuten war der Gegenangriff zurückgeschlagen, die Delle behoben, die Front begradigt. So eine Entschlossenheit hatte ich noch nicht erlebt.«
»Und das hat dir imponiert?«
»Ja, schon.«
Johan stichelte.
»Ob dieses männlichen Mutes und all dieser guten Krieger?«
»Trotz alledem. Ich habe damals auf den Frauenanteil nicht geachtet. Das meine ich nicht numerisch.«
Clara wurde ein klein wenig ernster und Johan strategisch.
»Obwohl das Ganze, ich meine das Ende absehbar war? Du hast doch das Kräfteverhältnis beschrieben! Da war doch nichts offen?«
»Rein rechnerisch hast du recht. Aber wie viele große Ereignisse konnten in der Geschichte vorhergesagt, vorausberechnet werden?«
»Na ja, das ist ja eine verwegene Chaos-Theorie.«
»Also wenn David immer nur auf den Riesen Goliath gestarrt hätte, hätte er niemals mit seiner Schleuder auf sein Auge zielen können. War doch so?«
»Du wirst mir jetzt merkwürdig biblisch, geschätzte Atheistin. Andere, nicht ganz so lang zurückliegende Beispiele wären mir, ehrlich gesagt, lieber.«
»Gut, wir verschieben das weltliche Quellenstudium. Sonst verlieren wir noch den LKW aus den Augen.«
Auf der Höhe des Maschener Kreuzes, nahe bei Seeve, blinkte der LKW, verließ die Autobahn und nahm die Landstraße Richtung Winsen. Der Verkehr dünnte sich merklich aus. Die Landstraße folgte der Elbe, bis der LKW nach wenigen Kilometern die Elbe überquerte. Clara hielt die Karte auf dem Schoss und versuchte mit einer Taschenlampe das mögliche Ziel auszumachen.
»Kann es sein, dass der das AKW Krümmel ansteuert?«
»Was weiß denn ich. Ich fahre nur hinterher.«
»Na, auf der anderen Seite der Elbe liegt Geesthacht und direkt daneben das AKW. Was anderes gibt es hier nicht.«
»Wir werden es bald wissen. Wenn es stimmt, können wir anschließend in der Elbe baden.«
»Ich kann deiner Kombinationsgabe nicht ganz folgen, mein Chauffeur.«
»Na, ja, für gewöhnlich nutzen AKWs Flüsse zur Kühlung des nuklearen Kreislaufes.«
»Dann sollten wir nicht baden gehen, sondern unsere Filme darin entwickeln. Aber Spaß beiseite, fahr jetzt bitte mit mehr Abstand. Wir werden gleich die Einzigen auf der Straße sein.«
Der LKW lavierte sich langsam durch das Dorf. Dahinter bog er rechts ab und nach einem Kilometer verschwand die Landstraße im Wald. Es wurde gespenstig dunkel, nur die Scheinwerfer warfen Lichtkegel gegen die Bäume.
»Schau mal rechts, da steht ein Schild!«
»Ja, das ist der Wegweiser fürs AKW-Krümmel … und der biegt nicht ab.«
Clara starrte wieder auf die Karte und konnte nichts, aber auch gar nichts ausmachen, was der LKW stattdessen ansteuern könnte.
»Ich hab’ keine Ahnung, wo …«
»Hat sich erledigt, Clara. Er blinkt, rechts. Was soll ich machen?«
»Fahr’ auf jeden Fall weiter. Hier ist nichts eingezeichnet. Fahr’ weiter.«
Der LKW verringerte seine Geschwindigkeit, bog ab, während Johan weiterfuhr. Clara warf die Karte auf den Rücksitz und schaute dem LKW nach.
»Mensch, wir haben Schwein gehabt. Das ist eine Privatstraße, in die er gefahren ist.«
»Ein Straßencafé wäre mir jetzt lieber …. Komm, wir parken hier.«
Johan zeigte auf den kleinen Waldweg. Nachdem sie das Auto abgestellt hatten, schauten sich beide um, wie Hänsel und Gretel. Es war stockduster. Die Anspannung schlug in Frösteln um und sie hatten keinen blassen Schimmer.
»Ich glaube, ich habe ein Schild gesehen, an der Stelle, wo der LKW abbog. Lass uns das erst einmal anschauen. Vielleicht sind wir dann schlauer.«
Sie gingen am Rand der Landstraße zurück. Weit und breit war kein Auto zu sehen, als sie die Kreuzung erreichten.
»Ich hatte recht.«
Clara zeigte auf das Schild.
»GKSS – Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schiffahrt. Das klingt total niedlich. Hast Du jemals in deinem Leben davon gehört?«
Johan vergrub seine Hände in den Achselhöhlen und schüttelte den Kopf.
»Atommafia mbH hört sich einfach nicht so gut an.«
Clara starrte in den Waldweg. Er war nicht beleuchtet. Die schmale Straße bog irgendwann links ab. Mehr war nicht zu sehen.
»Vielleicht war alles nur eine dumme Idee« brummelte Johan vor sich hin.
»Wir können ja noch ein Stück reingehen. Irgendwas muss ja noch kommen.«
Ihre Stimme klang alles andere als entschieden.
»Mir fällt auch nichts Besseres ein. Aber lass uns durch den Wald gehen. Ich möchte nicht, dass wir nachts um drei Uhr auf einem Privatweg von einer Streife abgegriffen werden. Das würde uns zu unserem Glück noch fehlen.«
Die beiden stapften durch den Wald, in sicherem Abstand zur Straße. Auch wenn sie vorsichtig waren, knackste es viel zu laut.
»Johan, halt mal an. Schau mal links, die Bäume, die sind total verkohlt. Das sieht wie nach einem Brand aus.«
Johan packte das Fernglas aus und suchte die Gegend ab.
»Da ist mehr kaputt gegangen. Da ist noch ein Fundament aus Beton oder so etwas Ähnlichem.«
Als sie davor standen, nickten beide.
»Auf dem Betonsockel befand sich mal was. Siehst Du hier die Spuren? Da war ein Bagger am Werk.«
»Keine Ahnung. Lass uns weitergehen. Vielleicht finden wir noch unseren verschwundenen LKW. Dann reicht es mir.«
Sie pirschten nicht mehr, sie stolperten eher. Die Beine wurden schwer, die Geräusche lauter.
Der Weg ist das Ziel. Johan musste über diese buddhistische Lebensweisheit schmunzeln. Clara zupfte Johan am Arm.
»Da vorne ist Licht. Siehst du das?«
Johan schaute wieder durchs Fernglas. Die Straße wurde von einer Schranke gesperrt. Rechts daneben befand sich ein Wärterhäuschen und ganz schemenhaft konnte er zwei Personen in Uniformen ausmachen.
»Endstation, würde ich sagen. Da vorne steht Wachpersonal rum, die den Zugang zum GK-Dingsbums kontrollieren. Und der LKW ist schon längst durchgewunken worden.«
»Tja, das war’s wohl. Bestimmt wird das ganze Gelände bewacht.«
Johan versuchte es mit dem Fernglas. Zumindest hinter der Sperre war die Straße beleuchtet.
»Von etwas anderem auszugehen, wäre wirklich Unsinn. Rechts hinter der Sperre kann ich einen flachen Neubau erkennen und links einen Kasten mit einer Kuppel. Sieht wie ein Reaktor aus.«
»Komm Johan, mir reicht’s jetzt. Wir wissen, dass die Ladung, das Ziel der Lkw-Fahrt irgendetwas mit Atomgeschäften zu tun hat. Alles andere müssen wir zu Hause rauskriegen. Ich bin hundemüde.«
»Okay, Ende einer unbezahlten Dienstfahrt.«
Johan legte den Arm um ihre Schulter und leitete die Rochade ein.
»Wenn du die ›Wunderbare Jeany‹ wärst, würdest du jetzt flunkern und wir lägen in der nächsten Sekunde im Bett.«
»Ich hab’ nur schlechte Laune im Angebot.«
Es wurde knapp. Jetzt hieß es, so schnell wie möglich die Kehrseite der Spontaneität hinter sich zu bringen. Ohne ein weiteres Wort trotteten sie zurück, bis sie die Stelle passierten, wo die verkohlten Bäume standen.
»Warte mal kurz.«
Johan holte seine Taschenlampe heraus, schirmte mit der Hand den kleinen Lichtkegel ab und suchte den Boden ab.
»Schau mal, hier!«
Clara schaute nicht hin.
»Hier sind lauter kleine Kügelchen.«
Johan wollte mit der Hand hingreifen, als Clara, viel zu laut, zischte.
»Lass die Finger davon. Bist du wahnsinnig. Du weißt doch gar nicht, was das ist.«
»Genau deshalb. Wir packen sie ein.«
Clara ergriff seinen Arm, sehr fest.
»Verdammt noch mal. Du hast mich nicht verstanden. Du nimmst gar nichts mit. Es sind auf jeden Fall keine Globuli. Und wenn du etwas von Tschernobyl nach Hause nehmen willst … dann ohne mich.«
Johan war von der heftigen Reaktion erschrocken und wieder hellwach.
»Aber das wäre doch die Gelegenheit …«
Johan verschluckte den Rest. Jetzt ging es nicht mehr um Überzeugungen.
»Nimm mich in den Arm, bitte.«
Clara wirkte so, als hätte sie sich selbst verlassen. Johan erahnte das uferlose Gefühl und drückte sie fest an sich. Ihr Kopf lag an seinem Hals.
»Ich habe Angst«, flüsterte sie. Über ihre Schulter hinweg sah er am Waldrand, vom Gelände kommend, zwei flackernde Lichtkegel. In groben Umrissen sah er die Silhouette zweier Männer. Er konnte ihre Gesichter nicht sehen, sie trugen Masken.
»Johan, kannst du noch fahren? Ich bin einfach durch.«
»Ich kann jetzt eh kein Auge zudrücken. Also werde ich fahren … und die Suppe auslöffeln.«
»Schau dabei auf die Straße. Ich möchte in keinem Graben aufwachen.«
Clara war weder witzig, noch dankbar.
Ein paar Wochen später.
Johan klingelte bei Clara. Als er vor der Wohnungstür stand, war diese bereits offen. Clara erwartete ihn nicht – dort. Sie stand in der Küche und war beschäftigt. Johan gab ihr einen Kuss in den Nacken, der sie nicht davon abbrachte, weiter die Tassen zu spülen.
»Alles in Ordnung bei dir?«
»Ja, was soll schon sein.«
Johan glaubte ihr nicht, ließ sich auf den Stuhl fallen und packte seine Tasche aus. Nacheinander legte er einen Stapel Kopien, mehrere Broschüren und ein Buch auf den Tisch.
»War gar nicht so einfach, eine Auswahl zu treffen.«
Johan sortierte ein wenig lauter, demonstrativer. Clara biss nicht an. Sie setzte Wasser auf. Kurz überlegte er, ob es Sinn machte, an der Abmachung festzuhalten, das gefundene Material zur GKSS gemeinsam durchzugehen. Dann schlug er das ungute Gefühl in den Wind.
»Also eins kann man auf jeden Fall sagen. Die GKSS ist alles, nur keine Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schifffahrt.«
Johan zog den harmlos klingenden Name in die Länge und Clara machte es kurz.
»Du wirst mir jetzt bestimmt alles verraten.«
»Alles, ist vielleicht ein bisschen zu viel gesagt. Auf jeden Fall ist es eine Atomfirma. Die Kuppel, die wir gesehen haben, gehört zu einem Versuchsreaktor und einen zweiten muss es dort auch noch geben. Alleine die Geschichte der GKSS ist ein Skandal …«
Johan beendete den Satz nicht, wollte wissen, ob er ins Leere lief und hatte recht. Clara war nicht neugierig, sondern mit den Teebeuteln beschäftigt, die sie in die Teekanne hängte.
»Clara, willst du das überhaupt wissen? Wir können auch etwas anderes machen, wenn dir gerade nicht der Kopf danach ist.«
»Doch, erzähl’ ruhig weiter. Irgendjemand muss ja den Tee machen.«
Clara goss das heiße Wasser in die Teekanne und Johan schluckte diese Entgleisung. Jetzt nur nicht den Bahnsteig wechseln. Manchmal waren es nur Anlaufschwierigkeiten, Synchronisationsprobleme, die sich von alleine gaben. Er atmete tief und leise durch.
»Also gut, ich erzähl jetzt drauf los und du sagst mir, wann es dir genug ist. Für unsere Geschichte in Hanau brauchen wir das nicht direkt. Aber es gibt eine Verbindung zwischen Alkem-Nukem und dieser GKSS. Der LKW war also kein Zufall.«
»Du wolltest von der Geschichte erzählen …«
»Also, diese GKSS wurde Mitte der 50er Jahre gegründet, mit staatlichen Förderungsgeldern. Der entschiedendste Befürworter war kein Geringerer als Franz Josef Strauß. Außer, dass er ultra-rechts ist, war er auch noch der erste Atomminister und hatte nichts Besseres zu tun …«
»… als an der Atombombe der Nazis weiterzubauen?«
»Genau, oder fast. Manchmal ist die Wirklichkeit plumper als jede Verschwörungstheorie. Weißt Du, wer die Gründungsmitglieder dieses harmlos klingenden Vereins waren?«
»Ich nehme an, du wirst sie jetzt aus dem Ärmel schütteln.«
»Aus der Gründungsakte zumindest. Als Vorstandsmitglieder tauchen dort ein Professor Dr. Bagge und ein Dr. Kurt Diebner auf. Als hättet es den Nationalsozialismus, die Niederlage nicht gegeben.«
»Die sagen mir gar nichts.«
»Den Wirtschafts- und Kriegseliten von damals und heute schon.«
Johan kramte in seinen Kopien herum, bis er die richtige zur Hand hatte und fing an, daraus vorzulesen.
»Kurt Diebner war Leiter des Kernforschungsreferats in Hitlers Heereswaffenamt sowie des NS-Uranprojekts und Gründer einer Forschungseinrichtung in Gottow auf dem Gelände der Heeresversuchsstelle Kummersdorf.
Erich Bagge arbeitete in der NS-Zeit in der ›Gruppe Diebner‹ von besagten Kurt Diebner. Zwischen 1941 und 1943 entwickelte Bagge die Isotopenschleuse, ein Gerät zur Anreicherung des Urans bis zu einem waffenfähigen Grad. Wie nahe diese Nazi-Wissenschaftler an der Atombombe waren, darüber streiten sich die Gelehrten. Auf jeden Fall bedeutete für diese Wissenschaftler die militärische Niederlage des Faschismus nicht das Ende, sondern nur eine kurze Unterbrechung.«
»Willst du damit sagen, die Nazis von gestern …«
Clara nahm die Teebeutel aus der Kanne, drückte sie windelweich und warf sie einzeln in den offenen Mülleimer. Der erste traf, der Zweite ging daneben.
»Willst du mich platt machen? Was soll diese dumme Anspielung?«
»Nein, ich will dich nur zu Ende denken. Mir riecht das zu sehr nach Refaschisierung.«
»Vielleicht gibt es tatsächlich einige, für die die Niederlage von gestern, der Sieg von morgen ist. Die Geschichte wiederholt sich aber nicht …«
»… und wenn als Farce.«
»Danke. Ich brauche keinen Faschismus, um gegen Atomwaffen, gegen Weltmachtambitionen usw. zu sein. Ich finde, Kapitalismus ist Grund genug, um dagegen zu sein.«
»Warum betonst du dann so deren NS-Vergangenheit?«
»Weil die Gründungsmitglieder Experten auf dem Gebiet der atomaren Bewaffnung sind und eingestellt wurden, um dort weiterzumachen, wo sie aufgehört hatten. Und zweitens macht es einen großen Unterschied, ob sich das Nachkriegsdeutschland an die Kapitulationsbedingungen hält oder ein weiteres Mal bereit ist, alle internationalen Verträge zu brechen, die ihnen auf dem Weg zurück zur Weltmacht hinderlich sind.«
»Woher weißt du, dass sie an der Atombombe dran sind? Vielleicht haben sie sich ja geläutert, bedauern ihre Verstrickung, sagt man doch so, und wollen jetzt alles wiedergutmachen?«
Ihr Ton war nicht mehr so klirrend, eher verspielt. Das Eis schien zu schmelzen und Johan fand Gefallen an dieser Wortkreuzung/diesem Wortungetüm.
»Wieder … gut … machen, alles wieder … gut, besser ….Machen …, das Beste daraus …machen… « und durchstöberte dabei seinen Kopienberg. Er hatte noch etwas von einer Göttinger Erklärung im Kopf.
»Hier ist es. Also, kaum hatten die Trümmerfrauen ihre Arbeit getan, wurde Deutschland wiederbewaffnet. In diesem Zusammenhang wurden die Vorwürfe immer lauter, Deutschland baue an der Atombombe. Auch der Druck auf die Wissenschaftler in diesem zivil-militärischen Bereich wurde größer. Schließlich wurde der Göttinger Appell 1957 verfasst. Die Unterzeichner erklärten darin, dass sie nicht bereit wären, ›sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen‹. Achtzehn namhafte Kernphysiker unterschrieben diese Selbstverpflichtung. Zwei Atomphysiker verweigerten ihre Unterschrift.«
»Lass mich raten: Dieser Bagge und der Dieb …«
»Diebner.«
»Okay, du hast mich. Mach’ weiter.«
Clara drehte ihm nicht länger den Rücken zu, stellte die Teekanne auf den Tisch und setzte sich zu ihm.
»Kannst Du dich noch an die kleinen Kügelchen erinnern, im Wald?«
»Na, das ist ja ein galanter Übergang.«
»Ich hab’ etwas dazu gefunden und das führt geradenwegs nach Hanau. Diese Kügelchen werden bei Nukem-Hobeg in Hanau produziert. Die einzigen Hersteller von kugelförmigen Kernbrennstoffen. Die Beschreibung dieser Mikrokügelchen trifft exakt auf diese Dinger zu, die wir, ich im Wald gesehen habe …«
»Und du mit nach Hause nehmen wolltest – Klammer auf, Klammer zu.«
Johan streckte die Hand über den Tisch, an den Tassen vorbei, in Richtung Versöhnung.
»Du hattest ja recht, nicht alles mit nach Hause zu nehmen, was man auf der Straße findet. Okay?«
Er drückte ihre Hand ganz kurz und sie nahm das Seelen-Pflaster an.
»So und jetzt kannst du weitermachen.«
»Jetzt kommt der Hammer. Dieser Kernbrennstoff wird für den Hochtemperaturreaktor hergestellt, so eine neue Reaktorlinie. Das Besondere an diesem Brennstoff ist, dass er nicht aus leicht angereichertem, sondern aus hoch angereichertem Uran besteht.«
»Du hast mir davon schon etwas in Hanau erzählt. Ich hab alles wieder vergessen.«
»Um Strom zu erzeugen, braucht man kein hoch angereichertes Uran. Da reicht, wie gesagt, leicht angereichertes Uran. Hoch angereichertes Uran braucht man nur, wenn man eine Atombombe bauen will.«
»Willst du mir, uns damit sagen, dass diese GKSS an der Atombombe arbeitet? Ist es das?«
»Nein, ich will damit nur sagen, dass diese Kügelchen dort nichts zu suchen haben, wenn es um die ach so friedliche Nutzung der Atomenergie ginge. Wenn diese Kügelchen dieselben sind wie die in Hanau, dann wurde damit verbotenerweise experimentiert. So erklärt sich auch die nächtliche Fahrt von Hanau nach Geesthacht …«
»Und wir haben uns die Nacht nicht umsonst um die Ohren geschlagen, mein Spurenleser. Fassen wir also zusammen: Auf dem Gelände der GKSS gab es einen Brand oder so etwas Ähnliches. Die Mikrokügelchen, die du mit nach Hause nehmen wolltest, sind Überbleibsel dieses Unfalls und stammen aus Hanau. Sie sind keine Globuli, sondern atomarer Kernbrennstoff, mit dem man Atombomben bauen kann. Und niemand hat etwas von diesem wohl eher schweren Unfall mitbekommen?«
»Kann man so nicht sagen, Frau Kommissarin. Diese Frage habe ich mir natürlich auch als selbstständiger Mitarbeiter gestellt und bin die Zeitungsmeldungen aus jenen Tagen durchgegangen.«
»Und, was ergaben Ihre Ermittlungen – auf eigene Faust?«
»Es gibt zwei klitzekleine Meldungen in den Zeitungen. Die erste berichtet von erhöhten radioaktiven Werten, die Messgeräte am Atomkraftwerk Krümmel festhielten.«
»Und die zweite?«
»Dass es überhaupt keinen Grund zur Beunruhigung gibt.«
»Gibt es einen Grund für diese Sorglosigkeit?«
»Natürlich, ich meine … natürliche Radioaktivität. Angeblich soll es sich dabei um Radon handeln, das sich bei Inversionswetterlage bildet.«
»Du verarscht mich jetzt.«
»Nein, das Wetter ist dran schuld. Ein Streich der Natur.«
»Und die Erde ist eine Scheibe.«
»Ja, Frau Kommissarin.«
(Auszug aus dem Buch: Tödliche Schüsse – eine dokumentarische Erzählung, Wolf Wetzel, Von der friedlichen zur militärischen Nutzung der Atomenergie, S. 200-215, Unrast-Verlag 2008)
Wer die Fakten zu dieser leicht fiktionalen Erzählung haben möchte, der sei auf den sehr ausführlichen Text: Mit krimineller Energie (zurück) in die Atomkraft verwiesen.
Wolf Wetzel 2011
2 Angelika Claußen, Vorsitzende der deutschen Sektion »Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung« (IPPNW), nach: FR vom 6.4.2006
3 Autonome in Bewegung, A.G. Grauwacke, Association A, Berlin 2003, S.27