Das Restrisiko der Atompolitik ist ein Kapitalverbrechen

von Wolf Wetzel

Wenn das Kühlwasser der Atompolitik verdampft….
1945 warfen US-Kampfflugzeuge zwei Atombomben über die Großstädte Hiroshima und Nagasaki in Japan ab. Beide Städte wurden total zerstört. In den atomaren Todeszonen starben 100.000 Menschen sofort, Hunderttausende starben an den Folgen radioaktiver Verstrahlung.

In den 50er Jahren begannen japanische Regierungen mit dem Bau von Atomkraftwerken. Die Behauptung, die zivile Nutzung der Atomenergie sei mit ihrer militärischen Nutzung nicht vergleichbar, war ein wesentliches Argument für ihre Durchsetzung. Heute stehen über 50 Atomkraftwerke auf der japanischen Insel. Sie werden – auch von der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) – als besonders sicher eingestuft.

2011 explodierten mehrere Blöcke des Atomkraftwerkes in Fukushima. Seitdem gelangt radioaktives Material entweder kontrolliert oder unkontrolliert in die Atmosphäre bzw. ins Erdreich. Ob die atomare Kernschmelze in den Reaktorblöcken noch unter Kontrolle gebracht werden kann oder ob der Kampf um die Eindämmung nur noch Handlungsmacht suggerieren kann, spielt für die Menschen in unmittelbarer und mittelbarer Umgebung der zerstörten Reaktorblöcke keine Rolle mehr. Die Menschen sind bereits radioaktiv kontaminiert, ihre Lebensgrundlage ist zerstört.

Ähnlich wie nach Tschernobyl 1986 wird weltweit koordiniert und improvisiert, beim Lügen, Täuschen, Vertrösten und irreleiten – ob in Japan oder Deutschland, ob bei japanischen oder internationalen Atomaufsichtsbehörden. Der Grund ist kein besonders mieser, sondern ein struktureller: Wenn das Ausmaß dieser atomaren Katastrophe bekannt wird, gibt es nicht nur für die japanische Regierung und die japanische Atomindustrie kein Überleben mehr.

Alle an der Atompolitik Beteiligten – ob in Japan, den USA oder Deutschland – wissen es: Wenn ein Atomreaktor explodiert, wenn die Sicherheitssysteme nichts mehr aufhalten können, dann gibt es keinen Rettungsplan, keinen Ausschalter mehr. Dann ist es so, als würde die Regierung eine Atombombe auf ihre eigene Bevölkerung abwerfen. Alle wissen, dass das, was als ›Restrisiko‹ verharmlost wird, ein wissentlich in Kauf genommenes ›Verbrechen gegen die Menschlichkeit‹ ist.

Zu dieser unglaublichen Farce gehören auch tägliche Berichte aus der Hauptstadt Japans, aus der 30-Millionen-Metropole Tokio: Von stoischer Ruhe, von unglaublicher Routine und Disziplin ist die Rede. Die aller meisten klammern sich an die Hoffnungen, die ihnen von professioneller Seite gemacht werden (die radioaktive Wolke nimmt eine andere Richtung, die Rettungsmaßnahmen haben Erfolg…). Was sollen sie auch anderes machen? Wie und wohin sollen 30 Millionen Menschen fliehen?

Genau diese Frage war Gegenstand geheimer, nationaler und internationaler Krisenstäben, bereits ein paar Tage nach dem GAU – Krisenstäbe, die wissen, welches Ausmaß die Kernschmelze in Fukushima tatsächlich hat! Könnte eine Evakuierung der Bevölkerung Tokios gelingen? Wie viel Flugzeuge, wie viele Schiffe müsste man bereitstellen? Welche Länder würden atomare ›Flüchtlinge‹ aufnehmen? Wie lange würde eine solche Evakuierung dauern? Das Ergebnis war vorhersehbar und wenig überraschend: Es ist unmöglich.

Also bleibt der japanischen Regierung nichts anderes als Zeit zu gewinnen, Fakten zu unterdrücken, Hoffnungen zu säen und immer wieder Wunder ins Bild zu setzen … Zeit, sich auf Krisenszenarien vorzubereiten, die eintreten könnten, wenn die Menschen in Japan das Vertrauen (in ihre Regierung, in den nationalen Pathos, in die angeblich typisch japanische Opferbereitschaft namens Kamikaze, in ihre eigne Gutgläubigkeit) verloren haben und nichts mehr zu verlieren haben.

Noch gehen wenige Menschen in Japan auf die Straße. Zeit genug für den japanischen Ministerpräsidenten, vor laufenden Kameras ein Glas Wasser zu trinken, um damit seine Reinheit und Unbedenklichkeit unter Beweis zu stellen. Zur selben Zeit wird die tragische Rolle der Feuerwehrmänner, die seit Tagen gebersteten Reaktorblöcke mit Meerwasser zu kühlen versuchen, in einen Heldenepos umgeschrieben. Sie opfern sich nicht fürs Vaterland, sondern für ein kriminelles Regierungs- und Wirtschaftssystem.

Tot ist, wenn wir es sagen…

Zweifellos ähnelt jede Reaktorkatastrophe einem Kriegszustand. In einem solchen Fall sind auch Tote ein Kriegsgeheimnis. Bis heute: „So bezifferte die IAEO die Opfer des Super-GAUS von Tschernobyl auf weniger als 50 Tote. Die WHO spricht bis heute von 9.000 Menschen, die aufgrund der Strahlenexposition ‘sterben könnten’. … 2009 veröffentlichte Jablokow ( Biologe, Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften) umfangreiche Daten und Untersuchungsergebnisse über die gesundheitlichen und ökologischen Folgen von Tschernobyl. Er beziffert die Gesamtzahl der Toten auf 900.000 bis 1,8 Millionen weltweit. Die Zahlen beziehen auch zukünftige Tote mit ein, weil die Tschernobyl-Nuklide weiter in der Biosphäre bleiben. Allein bei den 830.000 Liquidatoren gebe es bisher 112.000 bis 125.000 Tote.“

Zum Kriegsrecht der Atomenergie gehört auch, dass der Tod (weniger) gegen den Tod vieler aufgerechnet werden darf – wenn Arbeiter, Feuerwehrmänner zu einer Arbeit verpflichtet werden können, die das Leben dieser Menschen aufs Spiel setzt.

Es ist die Logik eines Krieges, den die Atomwirtschaft als ›Restrisiko‹ zur Fußnoten ihrer Politik gemacht hat und nun nach Helden ruft, die für ihren Krieg sterben werden. Doch anstatt Menschen mit dieser Wahrheit, mit dem tatsächlichen Risiko zu konfrontieren, schickt man Menschen in einen lebensbedrohlichen Einsatz und behauptet, dass man die radioaktive Gefährdung im Griff habe, dass keine Gefahr für die Gesundheit der Menschen bestehe.

Wenn dies so wäre, dann sollte der japanische Ministerpräsident kein Glas Wasser trinken, sondern mit seiner gesamten Regierung (und Opposition), unter Einschluss aller Führungsetagen des Atomreaktorbetreibers Alco vor das AKW in Fukushima kommen und die für unbedenklich erklärte radioaktive Dosis mit allen ArbeiterInnen teilen.

Wie stellt man diese Undenklichkeit her, wenn nicht mehr zu verheimlichen ist, dass die Radioaktivität seit Tagen in bedrohlichem Maße angestiegen ist? Man ändert die staatlich festgesetzten Grenzwerte:

Die Arbeiter des Atombetreibers Alco und die Feuerwehrmänner tragen Ganzkörperanzüge, »die gegen Gammastrahlung nicht schützen. Einige sind zusätzlich mit Sauerstoffflaschen versorgt, so arbeiten sie seit einer Woche in Fukushima an der Rettung Japans. Als am vergangenen Mittwoch mehr als 400 Millisievert pro Stunde gemessen wurden, mussten die Männer den Einsatzort verlassen. Dieser Wert entspricht etwa 4000 Röntgenbehandlungen. Zuvor hatte das japanische Gesundheitsministerium den Grenzwert für die Arbeiter bereits von 100 auf 250 Millisievert pro Jahr hochgesetzt. Für deutsche Arbeiter in einem Kraftwerk gilt der Wert von 20 Millisievert pro Jahr. Bei 100 Millisievert pro Woche leitet das Bundesamt für Strahlenschutz die Evakuierung der Gegend ein. Ein paar Stunden Arbeit unter den Extrembedingungen der am stärksten belasteten Areale von Fukushima sind, so kann man sagen, kein Gesundheitsrisiko, sondern ein Todesurteil. Bei einem Tag Arbeit in einem Umfeld von 400 Millisievert stirbt die Hälfte der Arbeiter den Strahlentod. Schon bei mehr als 100 Millisievert pro Jahr ist mit ernsten Gesundheitsschäden wie Krebs zu rechnen. Gehen die Männer mehrfach auf das Areal, summiert sich die Belastung ….« (FR vom 23.3.2011)

Wenn sich japanische Regierungsvertreter, wenn sich Pressesprecher der Atomfirma Alco vor jeder öffentlichen Erklärung mehrmals verneigen, dann nicht vor der Wahrheit, sondern vor den vielen Toten, die sie wissentlich und vorsätzlich in Kauf nehmen.

Das ›Restrisiko‹ der Atompolitik ist ein Kapitalverbrechen

Seit der Explosion von Reaktorblöcken in Fukushima wurde die Natur für die Reaktorkatastrophe verantwortlich gemacht. Sie hielt sich nicht an die Gefahrenprognosen der Atomkraftbetreiber. Nun sickern tröpfchenweise Nachrichten durch, dass auch ›unternehmerisches Versagen‹ dazu beigetragen hat. Zahlreiche Mängel waren seit langem bekannt, regelmäßige Kontrollen wurden unterlassen. Der AKW-Betreiber Tepco wusste darum, die japanischen Aufsichtsbehörden ebenso. Gemeinsam unternahmen sie nichts.

Dass Mängel erkannt und nicht beseitigt werden, hat nichts mit Schlampereien zu tun (die bekanntlich menschlich sind, also überall einmal vorkommen). Hier geht es um etwas anders: Wenn in Japan, wie in Deutschland auch, ehemalige Atommanager nach ihrem Ausschieden in öffentliche Ämter (unter anderem in die Atomaufsichtsbehörde) wechseln und umgekehrt, dann wird jede öffentliche Kontrolle zur Farce, eine teure und lebensgefährliche zugleich. Auch in Japan hat man dafür keine Lösung, aber einen Namen: Amakudari, vom Himmel heruntergestiegen.

»Amakudari nennt man auch jene Chefbeamten, denen die Ministerien nach ihrer Pensionierung zu hoch bezahlten Beraterstellen ausgerechnet in Firmen verhelfen, die sie zuvor kontrollieren sollten. Damit ist Korruption beinahe garantiert. Kein anderer Wirtschaftszweig ist über Amakudari so eng vernetzt mit der Politik wie die Atomwirtschaft; und zwar vor allem mit Tanigakis LDP (die ein halbes Jahrhundert, bis 2009 Japan regierte, d.V.) … Der Internet-TV-Reporter Tetsuo Jimbo nennt das Geklüngel von Atomlobby und Politik die ›japanische Nuklear-Mafia‹.« (SZ vom 21.3.2011)
Diese Nuklear-Mafia ist keine japanische Krankheit, sondern ein anders Wort für das, was Robert Jungk bereits 1977 als ›Atomstaat‹ bezeichnet hat. Eine atomare Wirtschaftsmacht, die straf- und haftungsfrei schalten und walten kann, ein parlamentarisches System, das weder die Kontrolle hat, noch in der Lage ist, diese zu erzwingen, eine politische Elite, die als (lukrativ bezahlte) Türsteher der Atomwirtschaft agieren, ein Sarkophag aus Repression und Korruption, um diese rechtsfreien Zonen gegen jede Form von Anfeindungen abzusichern.

Wie das System Amakudari in Deutschland funktioniert, hat die schwarz-gelbe Regierung vor kurzem vorexerziert:

Die Laufzeitverlängerung von AKWs war noch nicht durch Regierungsmehrheit im Bundestag abgesegnet worden, da machte sich bereits der Atomminister Röttgen (CDU) daran, die Weichen zu stellen. Er berief an die Spitze der Reaktoraufsicht einen Mann, der nicht einmal den Anschein von Neutralität wahren musste: Gerhard Hennenhöfer.

Gerhard Hennenhöfer war Generalbevollmächtigter für Wirtschaftspolitik beim Stromkonzern Viag. In dieser Funktion handelte er mit der damaligen rot-grünen Regierung den Atomkonsens aus, den er mit seiner Unterschrift besiegelte.

Eigentlich verbieten die Vorschriften des Verwaltungsverfahrensgesetzes eine solche Nominierung. Dort steht überraschend verständlich geschrieben, dass, »wer außerhalb seiner amtlichen Eigenschaft in der Angelegenheit … tätig geworden ist« (Paragraf 20), einen solchen Posten nicht wahrnehmen kann und darf. Doch die Befangenheit des Atomlobbyisten ist für Umweltminister Röttgen weder ›böser Anschein‹, noch ein Problem, sondern eine Art Garantieurkunde. Er lässt verlautbaren: »›Unser Haus teilt die Bewertung nicht‹, sagte ein Sprecher von Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) der FR auf Anfrage. Die Frage der Befangenheit Hennenhöfers stelle sich ›zurzeit nicht‹.«[1]

Diese Neubesetzung der Reaktoraufsicht kommt der Absicht gleich, einen Waffenlieferanten damit zu beauftragen, das Verbot des Waffenbesitzes durchzusetzen.

Warum ein Atommanager in dieses Amt gehievt werden soll, hat einen einfachen und durchsichtigen Grund: Diese Abteilung ist federführend bei der Entscheidung über AKW-Laufzeitverlängerungen. Mit diesem Mann an der Spitze darf das Ergebnis als gesetzt betrachtet werden.

Der Einstieg in den Ausstieg und wieder zurück

Die Unbeherrschbarkeit der Atompolitik, die Geiselnahme der Bevölkerung, die aberwitzige Vergesellschaftung einer ›Restrisikos‹, für das die Atomindustrie nicht haften muss, all dieses Wissen muss nicht neu entdeckt werden.

Spätestens nach der Explosion des Atomkraftwerkes in Tschernobyl/Sowjetunion 1986 ist dieses Wissen allen zugänglich. Die Mär von der friedlichen und beherrschbaren Atomenergie kostete bereits damals Zehntausenden von Menschen das Leben. Bis heute ist die Region um Tschernobyl radioaktiv verseucht.

Die für tot erklärte Anti-AKW-Bewegung kehrte zurück auf die politische Bühne. Zehntausende gingen auf die Straße und forderten die sofortige Stilllegung aller Atomkraftanlagen.

Die Regierung versprach eine Überprüfung des Atomprogrammes, spielte mit dem Leben (anderer) und auf Zeit. Mit Erfolg: Am Atomprogramm wurde festgehalten. Der Atomkonsens zwischen Nuklearwirtschaft und rot-grüner Regierung aus dem Jahr 2001 wurde gebrochen, die Laufzeitverlängerung durch die neue schwarz-gelbe Regierung 2010 beschlossen.

Legal, illegal, scheißegal…

Mit den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen 2010 hat die schwarz-gelbe Regierungskoalition ihre Mehrheit im Bundesrat verloren. Eine Mehrheit, die notwendig wäre, um den Bruch des beschlossenen Atomkonsenses parlamentarisch durchzuwinken. Schließlich ist die Aufsicht über Atomkraftwerke Ländersache.

Das sahen CDU und CSU-Landesregierungen auch so…. bis sie auf Bundesebene 2009 an die Macht kamen. 2002, als es darum ging, den ›Atomkonsens‹, den Ausstieg aus der Atomenergie bindend zu machen, erklärten jene CSU-CDU-Landesregierungen, dass die im Atomkonsens festgelegte Laufzeitbegrenzung »eine grundsätzliche Umgestaltung der Verwaltungsaufgabe (bedeute); die Vorschriften über den Aufgabenvollzug …erfahren eine neue Bestimmung«[2].

Nun kann man in der Tat darüber streiten, ob die 2002 beschlossene Laufzeitbegrenzung den in Länderhand liegende ›Aufgabenvollzug‹ umgestaltet oder vielmehr (vorzeitig) beendet hat.

Gänzlich absurd wird es jedenfalls, wenn acht Jahre später die geplante Laufzeitverlängerung, die zwingend eine Verlängerung des ›Aufgabenvollzugs‹ nach sich ziehen würde, für nicht zustimmungspflichtig gehalten wird, da sie nicht in die Hoheitsrechte der Länder eingreife.

Wie es dazu kommt, dass damals etwas Recht war, was heute kein Recht mehr ist, erklärte der Sprecher der Bundesregierung Lautenschläger wie folgt: »Unser Haus hat die Sachlage erneut geprüft , und wir sind zu der Erkenntnis gekommen: Eine Zustimmung des Bundesrates ist nicht notwendig.«[3]

Dank dieses Unrechtsbewusstseins hat die schwarz-gelbe Bundesregierung den Bruch des ›Atomkonsenses‹, die Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerke, beschlossen.

Ein Paradebeispiel dafür, dass in einer Demokratie parlamentarische Mehrheiten wünschenswert, aber nicht zwingend notwendig sind.

The same procedure as every year …

Heute, angesichts der atomaren Katastrophe in Japan, wiederholt sich das Spiel der Atom-Parteien in allen Ländern. Wieder geht es darum Zeit zu schinden, bis Gras über die atomar-verseuchten Landschaften gewachsen ist. In Deutschland verkündete die schwarz-gelbe Regierung ein Moratorium für die gerade beschlossene Laufzeitverlängerung von Atomreaktoren. Sie will die Sicherheit der am Netz bleibenden AKW’s überprüfen. Eine Farce, wenn man bedenkt, dass dieselbe Regierung es abgelehnt hatte, die Überprüfung der Atomreaktoren nach dem neusten Stand der Technik durchführen zu lassen. Bei dem dreimonatigen Moratorium geht es nicht um die Sicherheit von Atomreaktoren, sondern um das Überleben der aktuellen Bundesregierung – angesichts bevorstehender Landtagswahlen.

Das Atom-Moratorium im Abklingbecken der schwarz-gelben Bundesregierung

Am 14. März 2011 kamen Funktionäre des BDI/Bund deutscher Industrie und der Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) zusammen, um im Schatten der atomaren Katastrophe in Fukushima und im Licht anstehender Landtagswahlen ihre Politik abzustimmen. Herausragendes Thema war das gerade beschlossene dreimonatige Atommoratorium. Die BDI-Bosse wollten verständlicherweise von ihrem Wirtschaftsminister persönlich erfahren, wie das Moratorium gemeint ist. Der Wirtschaftsminister redete Klartext und enttäuschte seine Bosse nicht. Unter Tagesordnungspunkt 4 ›Umsetzung des industriepolitischen Gesamtkonzepts‹ fasst das Protokoll die ministrablen Ausführungen so zusammen:

» (…) Der Minister ging zunächst auf die Ereignisse in Japan ein. Man müsse sich darauf einstellen, dass die Energiediskussion mit gesteigerten Emotionen zurückkommen werde. (…) Der Minister (…) wies erläuternd darauf hin, dass angesichts der bevorstehenden Landtagswahlen Druck auf der Politik laste und die Entscheidungen daher nicht immer rational seien.«

Die BDI-Funktionäre waren beruhigt, auf ihren Wirtschaftsminister war wie immer Verlass. Die Atompolitik wird mit allen Mitteln fortgesetzt. Alles andere ist ›gesteigerten Emotionen‹ geschuldet, eine kleine Warteschleife, bis sich die Gemüter wieder beruhigt haben. Die Wirtschaftsbosse hatte nichts anderes erwartet und den nicht anwesenden BDI-Mitgliedern wurde ein Protokoll zuschickt. Ein völlig normaler Vorgang, zu dem selbstverständlich auch Vertraulichkeit gehörte, angesichts des Komplizenstatus zwischen Wirtschaftsbossen und Bundesregierung eine gängige Praxis.

Alles wäre so wie immer gelaufen, wäre dieses Protokoll nicht in falsche Hände gelangt. Die Süddeutsche Zeitung zitierte daraus und das, was viele nur vermuten, und selten beweisen können, stand nun Schwarz auf Weiß.

Nun musste das Containment zwischen Wirtschaft und Bundesregierung wieder geflickt, der Riss gekittet werden. Der Versuch, dieses Leck zu schließen ähnelte dabei dem Versuch in Fukushima, das unkontrollierte Entweichen von Radioaktivität durch kontrolliertes Ausleiten von Radioaktivität in den Griff zu bekommen.

Zuerst behauptete man, man wisse gar nicht, was ein Protokoll sei…. Nein, man sollte in einer solch ernsten Lage nicht übertreiben. Man ließ vielmehr verlautbaren, das Protokoll habe den Wirtschaftsminister falsch zitiert bzw. zusammengefasst. Dann musste noch jemand gefunden werden, der den Kopf dafür hinhält – um an anderer Stelle wieder aus der Versenkung aufzutauchen. Man fand ihn, es sollte BDI-Hauptgeschäftsführer Werner Schnappauf sein. Dessen Rücktrittserklärung ist absurd und wahr zugleich – zum schießen: »Ich übernehme die politische Verantwortung für die Folgen einer Indiskretion, an der ich persönlich nicht beteiligt war«, erklärte Schnappauf. Er wolle damit »möglichen Schaden für das Verhältnis von Wirtschaft und Politik« abwenden.

Dieser Rücktritt setzt Maßstäbe. Würden diese nur einen ganzen Tag gelten, gäbe es keine Führungselite, keine Regierung mehr: Erstens übernehme ich Verantwortung für etwas, was ich persönlich nicht zu verantworten habe. Zweitens widerspreche ich den Gründen, die meinen Rücktritt zwingend machen und trete zurück. Drittens maximiere ich den Schaden, den ich abwenden muss, indem ich das, was als Protokollfehler ausgegeben wurde, als Indiskretion [4] richtig stelle.

Aussichten

Es wird wieder nichts passieren, wenn man die Atompolitik den Parteien und ihren wahltaktischen Finessen überlässt. Wenn man sie nicht zwingt, wenn man nicht die Atomfirmen am tödlichen Geschäft hindert, wenn man sich ihnen nicht selbst in den Weg stellt, werden wir in ein paar Monaten dasselbe Palaver von ›Brückentechnologie‹ und sicheren, deutschen Atomkraftwerken zu hören bekommen.

Die Frage ist also nicht, ob die radioaktiv-aufgeladene Wolke auch Deutschland erreichen könnte, sondern ob es hier gelingt, aus dem Kreislauf kritischer Ohnmacht und sinnlosen Appellen an die gegenwärtige Bundesregierung herauszukommen.

In den 70er und 80er Jahren wurden die Bauplätze besetzt und belagert, auf denen Atomkraftwerke gebaut werden sollten. Heute wird man die Atomfirmen, ihre Geschäfts- und Verwaltungszentralen treffen müssen, um sie dazu zu zwingen, die einzig angemessene Konsequenz aus den atomaren Katastrophen zu ziehen: Die Stilllegung aller Atomanlagen.

Wolf Wetzel, am 28.3.2011

[1] FR vom 12.1.2010

[2] FR vom 18.5.2010

[3] FR vom 18.5.2010

[4] Am Freitag bekräftigte ein BDI-Präsidiumsmitglied in der SZ, die Sätze Brüderles seien »zwar verkürzt, aber richtig« wiedergeben worden. »›Wie konnte Schnappauf es zulassen, dass bei einer so heiklen Angelegenheit ein Protokoll über eine interne Beratung verfasst wurde?‹, sagte ein Spitzenrepräsentant eines Unternehmensverbandes im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau.« FR vom 25.3.2011

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